Beschluss vom 13.07.2022 -
BVerwG 2 WDB 5.22ECLI:DE:BVerwG:2022:130722B2WDB5.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 13.07.2022 - 2 WDB 5.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:130722B2WDB5.22.0]

Beschluss

BVerwG 2 WDB 5.22

  • TDG Süd 5. Kammer - 18.03.2022 - AZ: TDG S 5 VL 50/20

In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Burmeister und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Henke
am 13. Juli 2022 beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde der Wehrdisziplinaranwaltschaft wird der Beschluss des Vorsitzenden Richters der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom 18. März 2022 aufgehoben. Das vor dem Truppendienstgericht Süd unter dem Aktenzeichen S 5 VL 50/20 anhängige Verfahren wird unter Feststellung eines Dienstvergehens eingestellt.
  2. Der Bund trägt die Kosten des gesamten Verfahrens einschließlich der dem früheren Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen.

Gründe

I

1 Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Wehrdisziplinaranwaltschaft gegen eine Verfahrenseinstellung, die ohne Feststellung eines Dienstvergehens erfolgte.

2 1. Der frühere Soldat ist Reservist und 2018 regulär aus dem aktiven Wehrdienstverhältnis ausgeschieden. Die Übergangsbeihilfe wurde ihm vollständig ausgezahlt, Übergangsgebührnisse bezog er bis Ende September 2019.

3 2. Nachdem gegen ihn 2019 ein disziplinargerichtliches Verfahren eingeleitet worden war, wurde er 2020 angeschuldigt, schuldhaft ein Dienstvergehen begangen zu haben, indem er 2017 alkoholisiert am öffentlichen Straßenverkehr teilgenommen, dabei einen vierstelligen Sachschaden bei anderen Verkehrsteilnehmern verursacht, sich unerlaubt vom Unfallort entfernt und Widerstand gegen Polizeibeamte geleistet zu haben. Im sachgleichen Strafverfahren war er 2018 rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt worden.

4 3. Auf Anregung der Wehrdisziplinaranwaltschaft hat der Vorsitzende der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd das Verfahren mit Beschluss vom 18. März 2022 eingestellt, ohne ein Dienstvergehen festzustellen.

5 Es liege ein Verfahrenshindernis vor, weil es an der Möglichkeit fehle, im Falle eines Schuldspruchs eine gesetzlich vorgesehene gerichtliche Disziplinarmaßnahme zu verhängen. Der frühere Soldat beziehe keine Leistungen mehr, so dass gegen ihn nur noch die gerichtlichen Disziplinarmaßnahmen nach § 58 Abs. 3 Satz 1 WDO (Dienstgradherabsetzung oder Aberkennung des Dienstgrades) zulässig seien. Die auf der ersten Stufe der Zumessungserwägungen in Betracht zu ziehende Dienstgradherabsetzung sei jedoch wegen mildernder Umstände nicht angemessen, so dass eine mildere Disziplinarmaßnahme nicht mehr verhängt werden dürfe. Das Verfahren sei somit - auch vor dem Hintergrund des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. September 1976 (2 WD 12.76 ) – wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen, wodurch sich verbiete, ein Dienstvergehen festzustellen.

6 4. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft trägt mit ihrer Beschwerde vor, dass zwar nicht die Einstellung des Verfahrens zu beanstanden sei, jedoch die Rechtsauffassung, es liege ein Verfahrenshindernis nach § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO vor, wodurch sich die Feststellung eines Dienstvergehens verbiete. Die Norm stelle mit der Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses, wegen Unzulässigkeit einer Disziplinarmaßnahme oder wegen § 16 WDO drei Fallgruppen gleichrangig nebeneinander. Die Einstellung wegen Unzulässigkeit der konkreten Disziplinarmaßnahme bilde somit keinen Unterfall der Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses. Dies werde auch gestützt durch den Vergleich mit den für die Einleitungsbehörde gleichgelagerten Einstellungsgründen des § 98 Abs. 1 WDO. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt schließt sich dem an.

7 5. Der Soldat beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen. Die Feststellung eines Dienstvergehens hätte vorausgesetzt, dass die Einstellung allein auf § 16 Abs. 1 WDO gründe. Da jedoch bereits ein Verfahrenshindernis bestehe, sei für die Feststellung eines Dienstvergehens kein Raum mehr. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Januar 2011 stehe dem auch nicht entgegen.

II

8 1. Die auf die unterlassene Feststellung eines Dienstvergehens beschränkte Beschwerde der Wehrdisziplinaranwaltschaft ist zulässig.

9 Ein Soldat kann sich in einem Berufungsverfahren gegen ein unter Feststellung eines Dienstvergehens ergangenes Einstellungsurteil zulässigerweise wehren. Aus Regelungen wie § 23 Abs. 3 Satz 2, § 42 Satz 2 Nr. 12, § 95 Abs. 2 und § 92 Abs. 4 WDO folgt, dass die Wehrdisziplinarordnung auch bei unterlassener disziplinarischer Ahndung allein in der Feststellung eines Dienstvergehens eine Beschwer erblickt, die isoliert angefochten werden kann. Spiegelbildlich muss dann aber auch der gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 296 Abs. 1 StPO ebenfalls rechtsmittelberechtigten Wehrdisziplinaranwaltschaft das Recht zustehen, eine unterbliebene Feststellung als rechtlich falsche Sachbehandlung zum Gegenstand eines Rechtsmittelverfahrens zu machen (Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 115 Rn. 10; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. § 53 Rn. 9).

10 2. Die Beschwerde ist auch begründet.

11 a) Nach der Senatsrechtsprechung sind durch § 58 Abs. 2 oder Abs. 3 WDO bedingte Einstellungen des disziplinargerichtlichen Verfahrens unter der Feststellung eines Dienstvergehens auszusprechen (BVerwG, Urteile vom 25. September 2008 - 2 WD 19.07 - juris Rn. 79, vom 27. Januar 2011 - 2 WD 39.09 - juris Rn. 13 und vom 21. November 2019 - 2 WD 31.18 - Buchholz 449 § 23 SG Nr. 4 Rn. 42).

12 b) Unter den Begriff eines Verfahrenshindernisses nach § 108 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 WDO fallen alle Umstände, die der Fortführung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens von Rechts wegen entgegenstehen, also diese verhindern (BVerwG, Beschlüsse vom 6. August 2014 - 2 WDB 5.13 - BVerwGE 150, 162 Rn. 9 m. w. N. und vom 10. Juli 2018 - 2 WDB 2.18 - BVerwGE 162, 325 Rn. 5). Dazu zählen etwa fehlende allgemeine Verfahrensvoraussetzungen wie die Verfolgbarkeit von Täter und Tat (BVerwG, Beschluss vom 13. April 2021 - 2 WDB 1.21 - BVerwGE 172, 154 Rn. 9) sowie schwere Mängel des Verfahrens, die nicht auf andere Weise geheilt werden können, wie die Weigerung der Wehrdisziplinaranwaltschaft, einen Mangel im Sinne des § 99 Abs. 3 Satz 1 WDO zu beseitigen (BVerwG, Beschluss vom 13. April 2021 - 2 WDB 1.21 - BVerwGE 172, 154 Rn. 9). Auch eine extreme Verfahrensüberlänge ist geeignet, ein Verfahrenshindernis zu begründen (BVerwG, Urteil vom 28. September 2021 - 2 WD 11.21 - Rn. 24 ff.). Liegt es vor, verbietet sich nach der ständigen Senatsrechtsprechung auch die Feststellung eines Dienstvergehens (BVerwG, Beschlüsse vom 25. März 1997 - 2 WD 4.97 - DokBer B 1998, 12 Rn. 4 sowie vom 15. Juni 2007 - 2 WD 17.06 - BVerwGE 129, 52 Rn. 26).

13 c) Eine Einstellung des Verfahrens, die hingegen darin gründet, dass gegen den (früheren) Soldaten nach § 58 Abs. 2 und Abs. 3 WDO keine der dort als nur noch zulässig ausgewiesenen Disziplinarmaßnahmearten verhängt werden darf, bildet jedoch kein Verfahrenshindernis nach § 108 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 WDO.

14 aa) Die vom Truppendienstgericht zu seiner Begründung aufgegriffene Formulierung des Senats, zu den allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen zähle auch die Möglichkeit, eine der in der Wehrdisziplinarordnung vorgesehene gerichtliche Maßnahme zu verhängen (Beschluss vom 15. Juni 2007 - 2 WD 17.06 - BVerwGE 129, 52 Rn. 15), weist keinen Bezug zu § 58 WDO auf. Ausweislich der Beschlussgründe stand die Formulierung im Kontext mit der Frage, ob gegen den dortigen Soldaten ein gerichtliches Disziplinarverfahren "überhaupt gestattet" (Rn. 24) war, was sich (dort) bei Wehrpflichtigen bereits von vornherein verbot (Rn. 23). Die Entscheidung betraf daher die Frage der grundsätzlichen Verfolgbarkeit des Täters, während vorliegend nicht die Verfolgbarkeit des früheren Soldaten in grundsätzlicher Weise infrage steht, sondern lediglich die Zulässigkeit einer konkreten Disziplinarmaßnahme als Ergebnis einer individuellen Bemessungsentscheidung bei einem grundsätzlich disziplinarisch maßregelbaren (früheren) Soldaten. Die Konstellation einer Verfahrenseinstellung wegen einer im Einzelfall nicht (mehr) zulässigen Disziplinarmaßnahme regelt die 2. Alternative des § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO separat, sodass sich - anders als im Senatsbeschluss vom 30. September 1976 - 2 WD 12.76 - zu § 104 Abs. 3 Satz 1 WDO a. F. angenommen - nach klassischen Auslegungsmethoden verbietet, sie trotz ihrer spezialgesetzlichen Regelung gleichwohl unter den Begriff des Verfahrenshindernisses zu subsumieren.

15 bb) Dass in Fällen, in denen eine Ahndung des Dienstvergehens gemäß § 58 Abs. 2 und Abs. 3 WDO nicht mehr zulässig ist oder nach § 16 WDO nicht mehr verhängt werden darf (BVerwG, Urteile vom 14. Mai 2019 - 2 WD 24.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 64 Rn. 37 und vom 17. Juni 2021 - 2 WD 21.20 - juris Rn. 10 und 33), die Verfahrenseinstellung unter Feststellung eines Dienstvergehens zu treffen ist, folgt daraus, dass bereits der Disziplinarvorgesetzte und die Einleitungsbehörde diese Befugnis besitzen. Nach Maßgabe dessen sind die über noch weitergehende disziplinarische Befugnisse verfügenden Truppendienstgerichte erst Recht berechtigt und verpflichtet, eine solche Feststellung zu treffen.

16 d) Da unumstritten ist, dass die Voraussetzungen des § 58 Abs. 3 Satz 1 WDO vorliegen, und keine Sachverhaltsermittlungen geboten sind, befindet der Senat abschließend in der Sache (§ 91 Abs. 1 WDO i. V. m. § 309 Abs. 2 StPO).

17 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 138 Abs. 3, § 139 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2, § 140 Abs. 1 WDO. Es wäre unbillig, den früheren Soldaten mit den Kosten eines Rechtsmittels zu belasten, das allein wegen der fehlerhaften Entscheidung eines vom Bund getragenen Gerichts Erfolg hat (BVerwG, Beschluss vom 29. Januar 2019 - 2 WDB 1.18 - juris Rn. 19).