Verfahrensinformation

Das Verfahren betrifft einen in Deutschland geborenen türkischen Staatsangehörigen, der nach mehreren strafgerichtlichen Verurteilungen, u. a. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, von der Ausländerbehörde ausgewiesen und inzwischen in die Türkei abgeschoben worden ist. In dem Verfahren geht es u. a. um die Frage, ob Art. 9 der für das Aufenthaltsrecht von EU-Bürgern geschaffenen Richtlinie 64/221/EWG, der Anforderungen an die Ausgestaltung des außergerichtlichen Rechtsschutzes stellt, auch für türkische Staatsangehörige gilt, die aufgrund des Assoziierungsabkommens mit der Türkei aufenthaltsberechtigt sind. Der EuGH hat diese Frage in einem Urteil vom 2. Juni 2005 (C-136/03) inzwischen bejaht.


Pressemitteilung Nr. 46/2005 vom 13.09.2005

Europarechtliche Verfahrensgarantien für türkische Arbeitnehmer bei Ausweisung

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat entschieden, dass die europarechtlichen Garantien, die für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, auch türkischen Arbeitnehmern zustehen. Voraussetzung ist, dass sie ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei haben. Das Bundesverwaltungsgericht hat deshalb den Rechtsstreit um die Ausweisung eines 29-jährigen Türken, der in Baden-Württemberg wegen Handeltreibens mit Ecstasy-Tabletten zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt und im Jahre 2003 aus der Haft heraus in die Türkei abgeschoben wurde, an den Verwaltungsgerichtshof Mannheim zurückverwiesen.


Das Bundesverwaltungsgericht hat ausgeführt, dass nach Abschaffung des behördlichen Widerspruchsverfahrens bei Ausweisungen in Baden-Württemberg die im Gemeinschaftsrecht (Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG) vorgesehene Einschaltung einer unabhängigen Stelle neben der Ausländerbehörde ("Vier-Augen-Prinzip") nicht mehr vorgesehen ist. Ausweisungen von Unionsbürgern und von assoziationsrechtlich begünstigten türkischen Staatsangehörigen sind daher wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig, es sei denn, es hätte ein "dringender Fall" im Sinne der Richtlinie vorgelegen. In solchen dringenden Fällen kann von der Beteiligung einer zweiten Stelle ausnahmsweise abgesehen werden. Da der Verwaltungsgerichtshof bisher nicht abschließend geprüft hat, ob dem Kläger ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen zusteht (Art. 6 und 7 ARB 1/80) und ob bei ihm ein solcher Ausnahmefall vorlag, hat das Bundesverwaltungsgericht die Sache zur nochmaligen Überprüfung zurückverwiesen.


Das Bundesverwaltungsgericht hat damit erneut eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg (EuGH) zum Ausweisungsrecht umgesetzt. Bereits vor einem Jahr hatte das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass die Bestimmungen des deutschen Ausländerrechts zum Teil nicht den Vorgaben und strengen Anforderungen des Gemeinschaftsrechts an den Inhalt von Ausweisungsverfügungen entsprechen, die Unionsbürger und assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige betreffen.


BVerwG 1 C 7.04 - Urteil vom 13.09.2005


Beschluss vom 13.09.2005 -
BVerwG 1 VR 5.05ECLI:DE:BVerwG:2005:130905B1VR5.05.0

Beschluss

BVerwG 1 VR 5.05

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. September 2005
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht R i c h t e r und die Richterin am
Bundesverwaltungsgericht B e c k
beschlossen:

  1. Der Antrag des Antragstellers, den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 7. Januar 2003 zu ändern und die Aufhebung der Vollziehung des Bescheids des Antragsgegners vom 14. November 2002 anzuordnen, wird abgelehnt.
  2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Antragsverfahren auf 2 500 € festgesetzt.

Gründe

1 1. Nachdem der Antragsteller wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt worden war, wurde er durch Verfügung des Antragsgegners vom 14. November 2002 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Das von ihm beim Verwaltungsgericht angestrengte Verfahren auf Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz blieb ohne Erfolg. Der Antragsteller wurde daraufhin im April 2003 aus der Strafhaft in die Türkei abgeschoben. Seither hält er sich dort auf. Seine Klage gegen die Ausweisungsverfügung blieb in erster und zweiter Instanz erfolglos. Wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung über seine Revision (BVerwG 1 C 7.05 ) begehrt er mit dem vorliegenden Antrag, die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Ausweisungsverfügung vom 14. November 2002 und die Anordnung der Aufhebung der Vollziehung dieses Bescheides durch die Abschiebung in die Türkei. Eine Begründung enthält die Antragsschrift nicht.

2 2. Der Antrag des Antragstellers ist nach § 80 Abs. 7 i.V.m. Abs. 5 Satz 3 VwGO zulässig. Aufgrund dieser Bestimmung kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Das Bundesverwaltungsgericht, bei dem das Revisionsverfahren hinsichtlich der Ausweisungsverfügung anhängig ist, ist als Gericht der Hauptsache gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO berufen, über diesen Antrag zu entscheiden. Das erforderliche Rechtsschutzinteresse für das vorliegende Begehren kann dem Antragsteller nicht deshalb abgesprochen werden, weil er nach der negativen Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts abgeschoben worden ist (vgl. zuletzt Beschluss des Senats vom 17. Mai 2004 - BVerwG 1 VR 1.04 - Buchholz 310 § 80 VwGO Nr. 68 = InfAuslR 2005, 103; a.A. VGH Mannheim, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 13 S 195/05 - InfAuslR 2005, 313 m.w.N.). Solange über die Ausweisung und Abschiebungsandrohung nicht unanfechtbar entschieden ist, ist Eilrechtsschutz im vorrangigen Aussetzungsverfahren nach § 80 VwGO zu gewähren.

3 Der Antrag ist allerdings unbegründet. Eine Abänderung des bisher für die sofortige Vollziehung der Ausweisung maßgeblichen Beschlusses des Verwaltungsgerichts, mit dem die Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abgelehnt wurde, ist nicht geboten. Veränderte Umstände im Sinne des § 80 Abs. 7 VwGO sind schon deshalb nicht hinreichend glaubhaft gemacht, weil der Antragsteller seinen Abänderungsantrag nicht begründet und daher nicht dargetan hat, dass eine wesentliche Änderung der für die Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts damals maßgebend gewesenen Umstände eingetreten ist. Der Senat hat gleichzeitig mit der Entscheidung über den Abänderungsantrag des Antragstellers den Rechtsstreit in der Hauptsache an das Berufungsgericht zurückverwiesen, um zu klären, ob dem Antragsteller ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 bzw. Art. 7 des Beschlusses 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei zusteht und ob bei ihm ein dringender Fall im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG vorlag. Der Ausgang des Verfahrens ist damit nach wie vor offen. Im Hinblick hierauf ist nicht ersichtlich, dass nunmehr überwiegende private Interessen des Antragstellers bestehen, die eine Abänderung des Eilbeschlusses rechtfertigen (vgl. Beschluss vom 17. Mai 2004 a.a.O.).

4 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung für das Abänderungsverfahren beruht auf § 52 Abs. 1 und § 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG.

Urteil vom 13.09.2005 -
BVerwG 1 C 7.04ECLI:DE:BVerwG:2005:130905U1C7.04.0

Leitsätze:

1. Die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, sind auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben.

2. Findet die in der Richtlinie geforderte Nachprüfung einer Ausweisungsverfügung durch eine zweite unabhängige Stelle ("Vier-Augen-Prinzip") nicht statt, ist die Ausweisung wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig, es sei denn, es liegt ein "dringender Fall" vor.

3. Ein "dringender Fall" im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG setzt ein besonderes öffentliches Interesse daran voraus, das gerichtliche Hauptverfahren nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer weiteren, unmittelbar drohenden und unzumutbaren Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen.

  • Rechtsquellen
    AufenthG §§ 53, 54, 55
    AuslG §§ 45, 47, 48
    VwGO §§ 68, 80 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 5, § 114
    Richtlinie 64/221/EWG Art. 9
    Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der
    Assoziation - ARB 1/80 - Art. 6, 7, 14

  • VGH Mannheim - 09.03.2004 - AZ: VGH 10 S 1302/03 -
    VGH Baden-Württemberg - 09.03.2004 - AZ: VGH 10 S 1302/03

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - [ECLI:DE:BVerwG:2005:130905U1C7.04.0]

Urteil

BVerwG 1 C 7.04

  • VGH Mannheim - 09.03.2004 - AZ: VGH 10 S 1302/03 -
  • VGH Baden-Württemberg - 09.03.2004 - AZ: VGH 10 S 1302/03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 13. September 2005
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht D r. M a l l m a n n , H u n d und
R i c h t e r sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k
für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 9. März 2004 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

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