Beschluss vom 20.05.2025 -
BVerwG 2 B 9.25ECLI:DE:BVerwG:2025:200525B2B9.25.0
Beschluss
BVerwG 2 B 9.25
- VG Berlin - 25.02.2022 - AZ: 80 K 12/20 OL
- OVG Berlin-Brandenburg - 27.11.2024 - AZ: 80 D 2/22
In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. Mai 2025
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kenntner und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. von der Weiden und Dr. Hissnauer
beschlossen:
- Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. November 2024 wird zurückgewiesen.
- Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1 Der Rechtsstreit betrifft ein beamtenrechtliches Disziplinarklageverfahren.
2 1. Der ... geborene Beklagte steht als Justizvollzugsobersekretär (Besoldungsgruppe A 7 - Anlage zu § 2 Abs. 2 Laufbahnverordnung Justiz und Justizvollzugsdienst BE) im Dienst des klagenden Landes. Mit Strafbefehl vom Oktober 2016 verurteilte das Amtsgericht den Beklagten wegen Körperverletzung im Amt und falscher Verdächtigung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 50 €. Das bereits zuvor eingeleitete und aus Anlass des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ausgesetzte Disziplinarverfahren setzte der Kläger nach Rechtskraft des Strafbefehls fort und erhob im März 2020 Disziplinarklage.
3 Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Die hiergegen eingelegte Berufung hat das Berufungsgericht mit der Begründung zurückgewiesen, der Beklagte habe vorsätzlich und schuldhaft ein innerdienstliches Dienstvergehen begangen. Auf der Grundlage des im Berufungsverfahren eingeholten psychiatrischen Gutachtens stehe zur Überzeugung des Senats fest, dass bei dem Beklagten im Zeitpunkt der Pflichtverletzung keines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB vorgelegen habe. Das Dienstvergehen erfordere unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Umstände des Einzelfalls die Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis. Der Milderungsgrund der verminderten Schuldfähigkeit sei bei der Maßnahmebemessung nicht zu berücksichtigen, weil eine der in § 20 StGB angeführten seelischen Störungen nicht vorliege. Zwar könne das Vorliegen einer krankhaften Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit auch unterhalb der Schwelle der §§ 20, 21 StGB von Bedeutung sein; die vom Gutachter festgestellten Persönlichkeitsmerkmale des Beklagten stellten in der Gesamtwürdigung jedoch auch dann keinen hinreichend gewichtigen Milderungsgrund dar, wenn die aus Sicht des Gutachters nahe liegende Annahme zutreffe, dass diese Persönlichkeitsmerkmale die Pflichtverletzung maßgeblich mitbedingt hätten. Das vorgeworfene Verhalten sei vom Willen des Beklagten gesteuert gewesen. Die Persönlichkeitsmerkmale könnten eine Erklärung für das pflichtwidrige Verhalten bieten, aber keine Grundlage für eine positive Prognose bei Fortsetzung des Beamtenverhältnisses. Eine zugunsten des Beklagten einzustellende Mitverantwortung des Klägers sei nicht festzustellen.
4 2. Die allein auf den Verfahrensmangel (§ 41 DiszG BE, § 69 BDG i. V. m. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) eines Verstoßes gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gestützte Beschwerde ist unbegründet.
5 Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung einer Tatsacheninstanz ist der Beurteilung des Revisionsgerichts nur insoweit unterstellt, als es um Verfahrensfehler i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geht. Rügefähig ist damit nicht das Ergebnis der Beweiswürdigung, sondern nur der Verfahrensvorgang auf dem Weg dorthin. Derartige Mängel liegen insbesondere vor, wenn das angegriffene Urteil von einem falschen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, also beispielsweise entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder auf einer aktenwidrigen Tatsachengrundlage basiert. Die Einhaltung der verfahrensmäßigen Verpflichtungen des Tatsachengerichts ist nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter ein aus seiner Sicht fehlerhaftes Ergebnis der gerichtlichen Verwertung des vorliegenden Tatsachenmaterials rügt, aus dem er andere Schlüsse ziehen will als das angefochtene Urteil. Die Beweiswürdigung des Tatsachengerichts darf vom Revisionsgericht nicht daraufhin überprüft werden, ob sie überzeugend ist, ob festgestellte Einzelumstände mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die abschließende Beweiswürdigung eingegangen sind und ob diese Einzelumstände die Würdigung tragen. Solche Fehler sind revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen und können einen Verfahrensmangel i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO grundsätzlich nicht begründen. Ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz hat jedoch dann den Charakter eines Verfahrensfehlers, wenn das Tatsachengericht allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze verletzt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Februar 2017 - 2 B 2.16 - juris Rn. 15, vom 8. Juni 2017 - 2 B 5.17 - juris Rn. 17 und vom 23. Januar 2024 - 2 B 25.23 - juris Rn. 24). Das Ergebnis der gerichtlichen Beweiswürdigung selbst ist vom Revisionsgericht nur daraufhin nachzuprüfen, ob es gegen Logik (Denkgesetze) und Naturgesetze verstößt oder gedankliche Brüche und Widersprüche enthält (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Mai 2007 - 2 C 30.05 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 50 Rn. 16 sowie Beschlüsse vom 23. September 2013 - 2 B 51.13 - juris Rn. 19, vom 28. März 2017 - 2 B 9.16 - juris Rn. 17, vom 30. August 2023 - 2 B 44.22 - juris Rn. 6 und vom 23. Januar 2024 - 2 B 25.23 - juris Rn. 24).
6 Ausgehend hiervon lässt die Maßnahmebemessung des Berufungsgerichts einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz nicht erkennen.
7 a) Das Berufungsgericht hat bei seiner Überzeugungsbildung den Grundsatz "in dubio pro reo" nicht verletzt.
8 Entlastende Umstände sind nach dem Grundsatz, "in dubio pro reo", der im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 3 GG) und im Gebot freier richterlicher Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verankert ist, dann beachtlich, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für ihr Vorliegen gegeben sind und eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht möglich ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 23. Februar 2012 - 2 C 38.10 - NVwZ-RR 2012, 479 Rn. 15 und vom 28. Februar 2013 - 2 C 3.12 - BVerwGE 146, 98 Rn. 22; Beschlüsse vom 8. Juni 2017 - 2 B 5.17 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 43 Rn. 33 und vom 17. Juni 2021 - 2 B 56.20 - juris Rn. 13). Lässt sich nach erschöpfender Sachaufklärung ein Sachverhalt nicht ohne vernünftigen Zweifel ausschließen, dessen rechtliche Würdigung eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Beamten ergibt, so ist dieser Gesichtspunkt nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" in die Gesamtwürdigung einzustellen. Dies trägt dem auch im Disziplinarrecht geltenden Schuldprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung (vgl. BVerwG, Urteile vom 3. Mai 2007 - 2 C 9.06 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3 Rn. 30 und vom 29. Mai 2008 - 2 C 59.07 - Buchholz 235.1 § 70 BDG Nr. 3 Rn. 27; Beschlüsse vom 15. Juli 2019 - 2 B 8.19 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 68 Rn. 10 und vom 17. Juni 2021 - 2 B 56.20 - juris Rn. 13).
9 Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage des eingeholten psychiatrischen Gutachtens zu der Überzeugung gelangt, dass bei dem Beklagten zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung keines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB vorlag (vgl. UA S. 13). Zudem hat es sich die Bewertung des Gutachtens zu eigen gemacht, wonach die beim Beklagten diagnostizierte Anpassungsstörung im Sinne einer posttraumatischen Verbitterungsstörung (ICD-10 F43.2) und die kombinierte Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F61) kein Störungsbild aufweisen, das mit Funktionsbeeinträchtigungen oder Einbußen an sozialer Kompetenz einhergeht, die so ausgeprägt sind wie bei den als Referenz heranzuziehenden psychotischen Erkrankungen des § 20 StGB (vgl. UA S. 15).
10 Folglich bestand entgegen der Auffassung der Beschwerde bei der Beurteilung der Frage des Vorliegens verminderter Schuldfähigkeit (vgl. UA S. 19) kein Anlass, die vom Gutachter diagnostizierten gesundheitlichen Beeinträchtigungen einzubeziehen, und war für eine Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" kein Raum. Denn die Anwendung des § 21 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine der in § 20 StGB aufgeführten seelischen Störungen ("aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe") vorliegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. April 2023 - 2 A 18.21 - NVwZ 2024, 165 Rn. 36; Beschlüsse vom 26. September 2014 - 2 B 14.14 - Buchholz 235.1 § 57 BDG Nr. 5 Rn. 21, vom 23. Mai 2017 - 2 B 51.16 - Buchholz 235.1 § 64 BDG Nr. 3 Rn. 15 und vom 17. Oktober 2019 - 2 B 79.18 - NVwZ-RR 2020, 749 Rn. 10). Demnach hat das Berufungsgericht den Milderungsgrund der (erheblich) verminderten Schuldfähigkeit ohne Verstoß gegen Denkgesetze verneint.
11 b) Ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz ist dem Berufungsgericht auch im Übrigen nicht vorzuwerfen.
12 Zu den bei der Bemessungsentscheidung zu berücksichtigenden be- und entlastenden Umständen zählen - wie vom Berufungsgericht zutreffend ausgeführt - auch gesundheitliche Beeinträchtigungen des Beamten im Tatzeitraum, die zwar nicht die hohen Anforderungen eines Eingangsmerkmals i. S. d. § 20 StGB erfüllen, die aber dennoch für die Kriterien des § 13 DiszG BE relevant sind. Die in der Rechtsprechung des Senats entwickelten und "anerkannten" Milderungsgründe sind nicht als abschließender Kanon der allein beachtlichen Entlastungsgründe anzusehen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Oktober 2005 - 2 C 12.04 - BVerwGE 124, 252 <262>, vom 3. Mai 2007 - 2 C 9.06 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3 Rn. 20 ff., vom 2. Dezember 2021 - 2 A 7.21 - BVerwGE 174, 219 Rn. 46 und vom 20. April 2023 - 2 A 18.21 - NVwZ 2024, 165 Rn. 46; Beschluss vom 8. Januar 2025 - 2 B 32.24 - juris Rn. 26).
13 Ein Verstoß gegen die Pflicht zur fehlerfreien richterlichen Überzeugungsbildung liegt nicht darin, dass das Berufungsgericht in Bezug auf die Diagnosen Anpassungsstörung (im Sinne einer posttraumatischen Verbitterungsstörung) und kombinierte Persönlichkeitsstörung die hiermit einhergehenden "Persönlichkeitsmerkmale" trotz des festgestellten Einflusses auf die Pflichtverletzung des Beklagten bei der Maßnahmebemessung nicht mildernd berücksichtigt hat (vgl. UA S. 22).
14 Der hierauf bezogene Einwand der Beschwerde, die vorgenannten Umstände hätten nicht als unerheblich angesehen werden dürfen, geht fehl. Denn es ist eine Frage des materiellen, nicht des Verfahrensrechts, welches rechtliche Gewicht das Disziplinargericht einem von ihm als entlastend angesehenen Umstand bei der Bemessungsentscheidung beimisst (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Januar 2025 - 2 B 32.24 - juris Rn. 11). Die Beschwerde beanstandet mit ihrer Rüge nicht die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, sondern lediglich dessen rechtliche Schlussfolgerung aus dem - zwischen den Beteiligten insoweit nicht umstrittenen - Beweisergebnis. Nichts anderes gilt, soweit die Beschwerde den Vorwurf formuliert, das Berufungsgericht habe die Vorgänge um den Antrag des Beklagten auf Laufbahnwechsel im Jahr 2016 "unzutreffend gewürdigt".
15 c) Die Beschwerde zeigt zudem nicht auf, dass das Berufungsgericht seiner Entscheidung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat oder bei seiner Überzeugungsbildung von einer Sachverhaltsunterstellung ausgegangen ist, die nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird.
16 Das Berufungsgericht hat (bezogen auf das Jahr 2005) lediglich Verhaltensauffälligkeiten des Beklagten im Umgang mit Kollegen und ein unbeherrschtes Verhalten in Konfliktsituationen festgestellt, zudem, dass zur Vermeidung "zukünftiger Konfliktsituationen" auf Wunsch des Beklagten und amtsärztlicher Empfehlung dessen Umsetzung erfolgt sei (vgl. UA S. 3, 24). Aus den weiteren Feststellungen ergibt sich, dass bei dem Beklagten zwischenzeitlich außerdem eine - zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung allerdings remittierte - depressive Störung sowie eine Verbitterungsstörung im Zusammenhang mit einem Arbeitsplatzkonflikt (vgl. UA S. 13, 24) diagnostiziert worden war und dass er sich laut dienstlicher Beurteilung vom Frühjahr 2016 in seinem damals noch neuen Aufgabenbereich schnell in das bestehende Team integriert hat.
17 Vor diesem Hintergrund geht der Einwand der Beschwerde fehl, der Beklagte sei im Dienst massiven bzw. erheblichen Konflikten sowie einem Mobbing ausgesetzt gewesen, was das Berufungsgericht ebenso wenig mildernd berücksichtigt habe wie die damit einhergehende Fürsorgepflichtverletzung des Klägers. Denn sie legt ihrer Rüge einen Sachverhalt zugrunde, der den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die mangels einschlägiger und durchgreifender Verfahrensrügen auch in einem Revisionsverfahren bindend wären (§ 137 Abs. 2 VwGO), nicht entspricht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Juni 2022 - 2 B 53.21 - juris Rn. 16).
18 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 41 DiszG BE, § 77 Abs. 1 BDG und § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil die Höhe der Gerichtsgebühren nach der Anlage zu § 78 BDG betragsgenau festgelegt ist.