Beschluss vom 23.06.2022 -
BVerwG 2 B 53.21ECLI:DE:BVerwG:2022:230622B2B53.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 23.06.2022 - 2 B 53.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:230622B2B53.21.0]

Beschluss

BVerwG 2 B 53.21

  • VG Münster - 12.11.2019 - AZ: 13 K 1810/19.O
  • OVG Münster - 29.09.2021 - AZ: 3d A 148/20.O

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Juni 2022
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. von der Weiden,
Dr. Hartung und Dr. Hissnauer
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. September 2021 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die Beschwerde, mit der der Beklagte der Sache nach im Schwerpunkt Verfahrensfehler geltend macht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), bleibt ohne Erfolg.

2 1. Der 1964 geborene Beklagte steht als Polizeihauptkommissar (Besoldungsgruppe A 11) im Dienst des klagenden Landes. Mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts vom November 2015 wurde er wegen Verletzung von Dienstgeheimnissen in vier Fällen und unerlaubten Besitzes von Munition nach §§ 353b, 53 StGB sowie § 52 Abs. 3 Nr. 2b WaffenG zu einer Gesamtgeldstrafe von insgesamt 90 Tagessätzen zu je 50 € verurteilt. Anlass der Verurteilung wegen der Verletzung von Dienstgeheimnissen waren Abfragen im polizeilichen Nachrichtensystem, die der Beklagte auf Bitten des mit ihm befreundeten Sicherheitschefs eines Motorrad-Clubs vornahm. Darüber hinaus führte der Beklagte zwischen dem 4. März 2014 und dem 16. Januar 2015 in zahlreichen Fällen in unterschiedlichen polizeilichen Datenbanken privat motivierte Abfragen durch. Die Abfragen betrafen insbesondere den Ehemann seiner damaligen Lebensgefährtin.

3 Auf die unter anderem auf die vorgenannten Vorfälle gestützte und im Juli 2019 erhobene Disziplinarklage hat das Verwaltungsgericht den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt.

4 Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Das Verwaltungsgericht habe den Beklagten zu Recht wegen eines sehr schwerwiegenden Dienstvergehens aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Er habe das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit endgültig verloren. Der Beklagte sei ausgehend von dem vorliegenden Sachverständigengutachten zur Überzeugung des Senats im Tatzeitraum nicht schuldunfähig gewesen. Der Beklagte habe sich demnach eines sehr schwerwiegenden vorsätzlichen einheitlichen innerdienstlichen Dienstvergehens schuldig gemacht. Es seien keine Umstände erkennbar, die zu einer Abweichung von der durch die Schwere des Dienstvergehens indizierten Disziplinarmaßnahme führten. Der Milderungsgrund einer verminderten Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB greife nicht. Eine solche habe nicht vorgelegen. Eine "Entgleisung während einer inzwischen überwundenen negativen Lebensphase" könne dem Beklagten ebenfalls nicht zugutegehalten werden. Darüber hinaus lägen auch krankhafte Beeinträchtigungen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit unterhalb der Schwelle der seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20 und 21 StGB nicht vor.

5 2. Es kann dahinstehen, ob die Beschwerde bereits unzulässig ist, weil mit ihr keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO aufgezählten Revisionszulassungsgründe ausdrücklich genannt und geltend gemacht worden ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. Februar 1988 - 2 CB 53.87 - Buchholz 436.61 § 47 SchwbG Nr. 4; Czybulka/Hösch, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 133 Rn. 43). Denn die Beschwerde bleibt selbst bei wohlwollender Auslegung des Vorbringens des Beklagten in der Sache ohne Erfolg.

6 a) Sollte in der Beschwerdebegründung auch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 67 Satz 1 LDG NRW und § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO im Hinblick auf die Frage der milderen Berücksichtigung einer "Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Beamten unterhalb der Schwelle der §§ 20 und 21 StGB" geltend gemacht werden, wäre die Beschwerde jedenfalls unbegründet.

7 Das Berufungsgericht ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2005 - 2 C 12.04 - BVerwGE 124, 252 <258 ff.>) davon ausgegangen, dass bei der Maßnahmebemessung nicht allein die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts "anerkannten" Milderungsgründe zu berücksichtigen sind. Das Oberverwaltungsgericht hat ausgeführt, dass entlastende Aspekte des Persönlichkeitsbildes des Beklagten auch dann mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Bewertung einzubeziehen sind, wenn sie keinem der "anerkannten" Milderungsgründe zugeordnet werden können (UA S. 25 ff.). Dies gilt auch für den Aspekt der krankhaften "Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit unterhalb der Schwelle einer seelischen Abartigkeit" (UA S. 29 bis 31). Gestützt auf die Angaben des Sachverständigen ist das Berufungsgericht aber davon ausgegangen, dass die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Beklagten im Tatzeitraum durch psychische Erkrankungen nicht beeinträchtigt war.

8 Die inhaltliche Richtigkeit der Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts zur Bedeutung dieses Gesichtspunktes für die Bemessung nach § 13 LDG NRW kann mit der Grundsatzrüge nicht angegriffen werden. Diese Bemessung ist stets eine Frage der Würdigung aller be- und entlastenden Umstände des Einzelfalls (stRspr, BVerwG, Urteil vom 16. Juni 2020 - 2 C 12.19 - NJW 2020, 2907 Rn. 39 und Beschluss vom 26. Oktober 2021 - 2 B 12.21 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 88 Rn. 8) und entzieht sich damit einer rechtsgrundsätzlichen Klärung.

9 b) Unbegründet ist die Beschwerde auch, wenn die Ausführungen in der Beschwerdebegründung zugunsten des Beklagten dahingehend ausgelegt werden, dass Verfahrensfehler im Sinne von § 67 Satz 1 LDG NRW und § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend gemacht werden sollen. Der Vortrag des Beklagten, der noch am ehesten als Rüge eines Verstoßes des Oberverwaltungsgerichts gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und die Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gedeutet werden kann, greift nicht durch.

10 Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Gegen diese Pflicht verstößt es, wenn es seiner Entscheidung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde legt (stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 2. Februar 1984 - 6 C 134.81 - BVerwGE 68, 338 <339>, Beschlüsse vom 13. Februar 2012 - 9 B 77.11 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 73 Rn. 7 m. w. N. und vom 27. Februar 2020 - 9 BN 3.19 - juris Rn. 4). Das Gericht darf sich nicht auf tatsächliche Feststellungen stützen, für die es nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens keine Grundlage gibt (BVerwG, Beschlüsse vom 13. Februar 2012 - 9 B 77.11 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 73 Rn. 16 und vom 27. Februar 2020 - 9 BN 3.19 - juris Rn. 4), und Umstände, auf deren Vorliegen es nach seiner Rechtsauffassung für die Entscheidung ankommt, nicht ungeprüft behaupten (BVerwG, Beschlüsse vom 14. Juni 2011 - 8 B 74.10 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziffer 3 VwGO Nr. 61 Rn. 5 und vom 27. Februar 2020 - 9 BN 3.19 - juris Rn. 4 m. w. N.). Das Gericht verstößt gegen den Überzeugungsgrundsatz, wenn es bei seiner Überzeugungsbildung von einer Sachverhaltsunterstellung ausgeht, die nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird, und seine Überzeugung nicht auf eine hinreichende Tatsachengrundlage stützt (BVerwG, Beschlüsse vom 9. März 2017 - 6 B 51.16 - juris Rn. 5 m. w. N., vom 27. Februar 2020 - 9 BN 3.19 - juris Rn. 4 und vom 13. Januar 2021 - 2 B 21.20 - Buchholz 232.0 § 21 BBG 2009 Nr. 11 Rn. 32).

11 Ausgehend hiervon ist ein Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen kann, vom Beklagten nicht dargetan.

12 Das Berufungsgericht hat gestützt auf das von ihm eingeholte Sachverständigengutachten unter anderem festgestellt, dem Beklagten komme der Milderungsgrund der "Entgleisung während einer inzwischen überwundenen negativen Lebensphase" nicht zugute. Zwar habe er sich während der Zeit seiner Beziehung zu seiner Lebensgefährtin in einer besonderen Lebensphase befunden. Die Situation sei aber nicht so gravierend gewesen, dass ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr habe erwartet werden können. Zudem habe er ausdrücklich verneint, selbst Angst vor dem Ehemann seiner Partnerin gehabt zu haben. Die Pflichtverletzungen seien aus Verliebtheit und einem Bedürfnis begangen worden, für seine Partnerin der "Fels in der Brandung" zu sein. Diese Gefühls- und Motivationslage sei für sein strafrechtlich relevantes Verhalten, den Geheimnisverrat, auch nach den Angaben des Beklagten nicht ausschlaggebend gewesen. Insoweit sei es darum gegangen, sich gegenüber dem Sicherheitschef als einzigem Gesprächspartner in dieser aufreibenden Phase erkenntlich zu zeigen. Ebenfalls gestützt auf das ihm vorliegende Sachverständigengutachten hat das Berufungsgericht darüber hinaus das Vorliegen krankhafter Beeinträchtigungen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit unterhalb der Schwelle einer seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20 und 21 StGB beim Beklagten verneint. Die Belastung aufgrund der speziellen Lebenssituation habe nur moderate Auswirkungen ohne pathologischen Wert gehabt. Für das Vorliegen einer abhängigen Persönlichkeitsstörung - anknüpfend an die geschilderte Loyalität des Beklagten gegenüber dem Sicherheitschef - bestünden ebenfalls keine Anhaltspunkte. Aus dem Lebenslauf des Beklagten ergäben sich keine Hinweise auf Hilflosigkeit, Inkompetenz oder eine Unterordnung der eigenen Bedürfnisse unter diejenigen Dritter.

13 Damit hat das Berufungsgericht hinsichtlich des insoweit maßgeblichen Zeitraums nicht nur einen pathologischen Zustand verneint, sondern die Auswirkungen dieser "besonderen Lebensphase" auf der Grundlage der gutachterlichen Feststellungen und der Äußerungen des Beklagten in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen.

14 Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass das Berufungsgericht hierbei einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat oder bei seiner Überzeugungsbildung von einer Sachverhaltsunterstellung ausgegangen ist, die nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird.

15 Vielmehr trägt der Beklagte mit der Beschwerde sinngemäß vor, das Berufungsgericht habe sich auf die Feststellung des Nichtbestehens medizinischer Einschränkungen beschränkt. Die massiven Auswirkungen, die "psychische Zwangslage" in der er sich befunden habe, bzw. die "empfundene Zwangslage aufgrund des Verfolgungsdrucks durch den gewalttätigen Ehemann" und die sich hieraus ergebenden Einschränkungen, die zu einer "außerhalb der medizinischen Anwendung liegenden Minderung" führten, seien vom Berufungsgericht nicht berücksichtigt worden.

16 Hiermit vermag der Beklagte nicht durchzudringen. Denn seiner Rüge legt er einen Sachverhalt zugrunde, der den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die mangels einschlägiger Verfahrensrügen auch in einem Revisionsverfahren bindend wären (§ 137 Abs. 2 VwGO), nicht entspricht (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 25. Januar 2016 - 2 B 83.15 - Buchholz 316 § 60 VwVfG Nr. 11 Rn. 15 und vom 23. September 2013 - 2 B 51.13 - juris Rn. 8). Dabei ist ohne Bedeutung, ob Feststellungen in dem mit "Tatbestand" oder in dem mit "Entscheidungsgründen" überschriebenen Abschnitt des Urteils enthalten sind; § 137 Abs. 2 VwGO bestimmt die regelmäßige Bindung des Bundesverwaltungsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil ohne Rücksicht darauf, in welchem Abschnitt die Feststellungen getroffen worden sind (BVerwG, Beschluss vom 6. Februar 2001 - 6 BN 6.00 - juris Rn. 6; Neumann/Korbmacher, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 137 Rn. 135).

17 Den Feststellungen des Berufungsgerichts, das sich gerade auch auf die Aussagen des Beklagten gestützt hat, lässt sich entnehmen, dass sich - wie bereits ausgeführt - der Beklagte in einer besonderen Lebensphase befunden hat, die Situation aber nicht so gravierend gewesen ist, dass ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet werden konnte. Seine Verliebtheit sowie ein Beschützerinstinkt gegenüber seiner Lebensgefährtin waren für den Beklagten handlungsleitend. Angst vor dem Ehemann seiner damaligen Lebensgefährtin hat der Beklagte nicht gehabt. Auch im Verhältnis zum Sicherheitschef war die Motivation bestimmend, sich diesem gegenüber erkenntlich zu zeigen, ohne dass hierfür auf Seiten des Beklagten Hilflosigkeit, Inkompetenz oder Unterordnung eine Rolle spielten. Eine "psychische" oder "empfundene" Zwangslage hat das Berufungsgericht nicht festgestellt.

18 Demzufolge musste das Berufungsgericht - entgegen der Auffassung des Beklagten - auch keine Überlegungen dahingehend anstellen, welche Bedeutung den "massiven Auswirkungen" bzw. der "psychische Zwangslage" im Hinblick "auf die Frage der Einhaltung der Dienstpflichten" möglicherweise zugekommen sein könnte.

19 Die Kostenentscheidung beruht auf § 74 Abs. 1 LDG NRW i. V. m. § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes bedarf es nicht, weil für das Beschwerdeverfahren Festgebühren nach dem Gebührenverzeichnis der Anlage zu § 75 Satz 1 LDG NRW erhoben werden.