Beschluss vom 23.02.2021 -
BVerwG 1 B 13.21ECLI:DE:BVerwG:2021:230221B1B13.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 23.02.2021 - 1 B 13.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:230221B1B13.21.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 13.21

  • VG Trier - 02.10.2017 - AZ: VG 7 K 9236/17.TR
  • OVG Koblenz - 14.12.2020 - AZ: OVG 7 A 10795/18.OVG

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Februar 2021
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 14. Dezember 2020 wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die auf einen Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde ist unzulässig. Die von dem Kläger mit Blick darauf, dass das Oberverwaltungsgericht seine Entscheidung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Beschlusswege getroffen hat, geltend gemachten Verfahrensfehler einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) (1.), der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) (2.) und des Gebots einer fehlerfreien richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) (3.) sind schon nicht hinreichend dargelegt.

2 1. Mit dem Vorbringen, das Oberverwaltungsgericht habe der Bitte, auf der Grundlage einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden, nicht entsprochen und seine Entscheidung getroffen, ohne sich einen persönlichen Eindruck von dem Kläger und dessen individuellen Verhältnissen zu verschaffen, wird hier schon nicht dargelegt, dass das Berufungsgericht durch seine im Beschlusswege nach § 130a VwGO getroffene Entscheidung den Anspruch des Klägers auf Wahrung seines rechtlichen Gehörs verletzt hat.

3 1.1 Weder Art. 103 Abs. 1 GG noch § 108 Abs. 2 VwGO begründen einen Anspruch darauf, dass das rechtliche Gehör gerade in der mündlichen Verhandlung gewährt werden muss. Allerdings entscheidet das Oberverwaltungsgericht über eine Berufung grundsätzlich durch Urteil, das aufgrund mündlicher Verhandlung ergeht (§ 125 i.V.m. § 101 VwGO). Nach § 130a Satz 1 VwGO kann es über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es diese einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich hält. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden wird, in seinem weiten Ermessen. Bei der Ermessensentscheidung gemäß § 130a Satz 1 VwGO dürfen die Funktionen der mündlichen Verhandlung und ihre daraus erwachsende Bedeutung für den Rechtsschutz nicht aus dem Blick geraten. Das Gebot, im Rahmen einer mündlichen Verhandlung die Rechtssache auch im Interesse der Ergebnisrichtigkeit mit den Beteiligten zu erörtern, wird umso stärker, je schwieriger die von dem Gericht zu treffende Entscheidung ist. Mit dem Grad der Schwierigkeit der Rechtssache wächst daher zugleich auch das Gewicht der Gründe, die gegen die Anwendung des § 130a VwGO und für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sprechen. Das Revisionsgericht kann diese Entscheidung nur darauf überprüfen, ob das Oberverwaltungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat. Ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung ist seitens des Revisionsgerichts zu beanstanden, wenn es auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung des Berufungsgerichts beruht oder wenn im konkreten Fall Art. 6 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bzw. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gebieten. Die Grenzen von § 130a Satz 1 VwGO sind erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist; abzustellen ist insoweit auf die Gesamtumstände des Einzelfalles (BVerwG, Beschlüsse vom 28. März 2019 - 1 B 7.19 - juris Rn. 19 f. und vom 8. Juni 2020 - 1 B 27.20 - juris Rn. 7 f., jeweils m.w.N.).

4 1.2 Nach diesen Maßstäben, mit denen sich die Beschwerde nicht hinreichend auseinandersetzt, ist nicht dargelegt, dass die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens nach § 130a VwGO hier ermessensfehlerhaft gewesen sei.

5 a) Das Berufungsgericht hat die Beteiligten zu seiner Absicht, durch Beschluss nach § 130a VwGO zu Lasten des Klägers zu entscheiden, mit Verfügung vom 10. November 2020 vorab gehört. Dabei hat es auf einschlägige jüngere Rechtsprechung und Erkenntnisse zur Bewertung der Situation in Bulgarien verwiesen. Für den Kläger war hiernach zu ersehen, dass die diesbezügliche Einschätzung des Verwaltungsgerichts Bestand haben würde.

6 Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat daraufhin zwar innerhalb der Äußerungsfrist unter Hinweis auf entgegenstehende Rechtsprechung und Erkenntnisse um die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gebeten, aber weder konkret neu zur Sache vorgetragen noch einen konkreten Beweisantrag zu einer bestimmten Beweistatsache gestellt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Oktober 2007 - 5 B 157.07 - juris Rn. 12). Damit bestand für das Berufungsgericht kein Anlass, von einer Entscheidung nach § 130a VwGO abzusehen oder die Ermessensentscheidung über das Absehen zu ergänzen. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), wonach dann keine neue mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 [ECLI:​EU:​C:​2017:​591], Moussa Sacko - Rn. 47 m.w.N.). Für die Berufungsinstanz gelten jedenfalls keine strengeren Maßstäbe (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 29. Oktober 1991 - Nr. 11826/85, Helmers/Schweden - Rn. 36).

7 b) Ebenso wenig gebot Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK vorliegend die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Norm findet auf den vorliegenden Rechtsstreit keine direkte Anwendung. Dem Wortlaut nach gilt Art. 6 Abs. 1 EMRK nur für Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen und für strafrechtliche Anklagen. Auch wenn der Anwendungsbereich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über das nationale Wortverständnis hinausgeht, werden jedenfalls Verfahren aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts, wozu auch das Asylrecht zählt, weiterhin nicht davon erfasst (BVerwG, Urteile vom 21. März 2000 - 9 C 39.99 - BVerwGE 111, 69 <74>, vom 14. März 2002 - 1 C 15.01 - BVerwGE 116, 123 <125> und vom 27. Oktober 2015 - 1 C 32.14 - BVerwGE 153, 162 Rn. 23; Beschluss vom 16. Juni 1999 - 9 B 1084.98 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 40; jeweils m.w.N.). Davon unberührt bleibt, dass die vom EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Anforderungen bei konventionskonformer Anwendung im Rahmen der Ermessensausübung nach § 130a VwGO vom Berufungsgericht zu berücksichtigen sind.

8 c) Das nach nationalem Recht in konventionskonformer Auslegung eröffnete Ermessen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, war hier auch nicht mit Blick auf Unionsrecht eingeschränkt oder ausgeschlossen. Weder Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 S. 60) - RL 2013/32/EU -, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht gegen die einen Antrag auf internationalen Schutz ablehnende Entscheidung vorsieht, noch eine andere Bestimmung der Richtlinie sehen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem mit dem Rechtsbehelf befassten Gericht vor (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 - Rn. 28). Es besteht eine Pflicht der Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist. Diese Pflicht entspricht dem in Art. 47 GRC verankerten Grundsatz, wonach jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, sodass der Begriff des "wirksamen Rechtsbehelfs" im Sinne des Art. 46 RL 2013/32/EU im Einklang mit Art. 47 GRC zu bestimmen ist (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 - Rn. 30 f. m.w.N.). Art. 47 GRC ist wiederum im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK auszulegen, da Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC den Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK entsprechen (Art. 52 Abs. 3 GRC). Insoweit hat der Gerichtshof der Europäischen Union unter Bezugnahme auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits festgestellt, dass sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK keine absolute Verpflichtung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergibt und eine solche Verpflichtung auch nicht aus Art. 47 Abs. 2 oder einer anderen Bestimmung der Charta der Grundrechte folgt (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 - Rn. 40 m.w.N.). Jedenfalls dann, wenn das Gericht der Auffassung ist, dass es seiner Verpflichtung zur umfassenden ex-nunc-Prüfung des Rechtsbehelfs nach Art. 46 Abs. 3 RL 2013/32/EU allein auf der Grundlage des Akteninhalts einschließlich der Niederschrift oder des Wortprotokolls der persönlichen Anhörung des Antragstellers nachkommen kann, kann es die Entscheidung treffen, den Antragsteller im Rahmen des Rechtsbehelfs nicht anzuhören und von einer mündlichen Verhandlung abzusehen (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 - Rn. 44).

9 d) Entgegen der Darstellung der Beschwerdebegründung hat es das Oberverwaltungsgericht auch nicht unterlassen, seine Entscheidung auf der Grundlage einer einzelfallbezogenen Prüfung der Situation des Klägers zu treffen. Dessen Situation hat es nicht nur in den Gründen zu I. seines Beschlusses berücksichtigt, sondern auch einer individuellen Würdigung in den Gründen zu II. zugeführt (vgl. BA S. 7, 13, 14, 15 f.).

10 2. Den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt auch nicht die geltend gemachte Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

11 Die Rüge einer solchen Verletzung erfordert eine substantiierte Darlegung, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, durch einen Beweisantrag hingewirkt worden ist und die Ablehnung der Beweiserhebung im Prozessrecht keine Stütze findet, oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 58 Rn. 20 m.w.N.).

12 Diesen Anforderungen genügt die Beschwerde ersichtlich nicht. Sie hat weder für erforderlich gehaltene weitere Aufklärungsmaßnahmen bezeichnet noch vorgetragen, welche tatsächlichen Feststellungen bei deren Vornahme voraussichtlich getroffen worden wären. Zudem ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen nicht, dass der Kläger durch einen Beweisantrag oder eine hinreichend bestimmte Beweisanregung im Berufungsverfahren auf eine Beweiserhebung hingewirkt hätte oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Berufungsgericht eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen.

13 3. Ebenso wenig legt die Beschwerde in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise einen Verstoß gegen das Gebot rechtsfehlerfreier Überzeugungsbildung dar.

14 Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat das Gericht seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde zu legen. Es darf nicht einzelne erhebliche Tatsachen oder Beweisergebnisse aus seiner Würdigung ausblenden. Im Übrigen darf es zur Überzeugungsbildung die ihm vorliegenden Tatsachen und Beweise frei würdigen. Die Einhaltung der verfahrensrechtlichen Grenzen zulässiger Sachverhalts- und Beweiswürdigung ist nicht schon dann infrage gestellt, wenn ein Beteiligter das vorliegende Tatsachenmaterial anders würdigt oder aus ihm andere Schlüsse ziehen will als das Gericht. Diese Grenzen sind erst dann überschritten, wenn das Gericht nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen tatsächlichen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 58 Rn. 23 m.w.N.).

15 Nach diesen Maßgaben zeigt die Beschwerdebegründung verfahrensrechtliche Mängel der Überzeugungsbildung nicht auf. Das Oberverwaltungsgericht ist nicht gehalten gewesen, sich im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von dem Kläger zu verschaffen. Es durfte seine Überzeugung, dem Kläger drohe in Bulgarien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Behandlung, vielmehr auf der Grundlage die individuellen Verhältnisse des Klägers berücksichtigender aktueller Informationen aus relevanten Quellen gewinnen. Dass das Oberverwaltungsgericht das Vorbringen des Klägers im Schriftsatz vom 1. Dezember 2020 und die dort bezeichneten Erkenntnismittel bei seiner Bewertung, dass ihm keine nach dem 17. März 2020 veröffentlichten Erkenntnismittel bekannt seien, die eine abweichende Bewertung zu den in Bezug auf Art. 3 EMRK drohenden Gefahren rechtfertigten, nicht berücksichtigt hat, stellt nicht in Abrede, dass es nach diesem Zeitpunkt veröffentlichte Erkenntnismittel gibt, und lässt auch sonst nicht erkennen, dass es Vorbringen des Klägers sonst bei der Überzeugungsbildung nicht zur Kenntnis genommen oder erwogen hätte.

16 4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

17 5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.