Beschluss vom 23.04.2020 -
BVerwG 1 C 26.19ECLI:DE:BVerwG:2020:230420B1C26.19.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 23.04.2020 - 1 C 26.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:230420B1C26.19.0]

Beschluss

BVerwG 1 C 26.19

  • VG Berlin - 15.03.2018 - AZ: VG 24 K 382.16 V
  • OVG Berlin-Brandenburg - 22.05.2019 - AZ: OVG 3 B 1.19

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. April 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann
beschlossen:

Der Rechtsstreit wird hinsichtlich der Revision des Klägers zu 2 gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. Mai 2019 unter dem Aktenzeichen BVerwG 1 C 25.20 abgetrennt.

Gründe

1 Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat die Berufung des Klägers zu 2 gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin (betreffend die Versagung eines Visums zum Zweck des Familiennachzugs) zurückgewiesen. Der Kläger zu 2 hat gegen das Berufungsurteil form- und fristgerecht Revision eingelegt und eine Verfahrensrüge erhoben. Der Senat beabsichtigt, mit Blick auf seine Vorlagen an den Gerichtshof der Europäischen Union in den Verfahren BVerwG 1 C 9.19 und BVerwG 1 C 10.19 (Beschlüsse vom 23. April 2020), das Verfahren in Bezug auf die Revision der Beklagten gegen ihre Verpflichtung, der Klägerin zu 1 ein Visum zum Zweck des Familiennachzugs zu erteilen, wegen der Vorgreiflichkeit der Klärung unionsrechtlicher Zweifelsfragen zur Auslegung der Familienzusammenführungsrichtlinie auszusetzen. In Bezug auf die Revision des Klägers zu 2 hängt die Vorgreiflichkeit von der Entscheidung über dessen Revision ab. Es ist daher sachgerecht (§ 93 Satz 2 VwGO), den Rechtsstreit insoweit abzutrennen.

Urteil vom 23.04.2020 -
BVerwG 1 C 25.20ECLI:DE:BVerwG:2020:230420U1C25.20.0

Urteil

BVerwG 1 C 25.20

  • VG Berlin - 15.03.2018 - AZ: VG 24 K 382.16 V
  • OVG Berlin-Brandenburg - 22.05.2019 - AZ: OVG 3 B 1.19

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. April 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. Mai 2019 aufgehoben, soweit es ihn betrifft. Insoweit wird der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  2. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I

1 Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger und begehrt die Erteilung eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung mit seinem als Flüchtling anerkannten Sohn.

2 Sein am 20. November ... geborener Sohn (im Folgenden: Stammberechtigter) reiste im Oktober 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Auf seinen Asylantrag vom 20. November 2014 erkannte ihm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am 14. September 2015 die Flüchtlingseigenschaft zu. Die Ausländerbehörde erteilte ihm daraufhin im Oktober 2015 eine bis zum Dezember 2018 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG.

3 Mit Schreiben vom 24. September 2015 wandte sich der von dem Stammberechtigten bzw. von dessen gerichtlich bestelltem Vormund bevollmächtigte Rechtsanwalt und jetzige Klägerbevollmächtigte an die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Teheran/Irak (im Folgenden: Botschaft Teheran) und beantragte, den Eltern und Geschwistern Visa zum Familiennachzug zu erteilen. Bei der persönlichen Vorsprache zur Visumantragstellung in der Botschaft Ankara im Juni 2016 legte der Kläger einen bis zum Oktober 2016 gültigen Pass vor. Die damals zuständige Ausländerbehörde stimmte der Erteilung der Visa im September 2016 zu.

4 Die Botschaft Ankara lehnte die Visaanträge mit Bescheiden vom 22. September 2016 ab. Die Erteilung eines Visums an den Kläger und seine Frau zum Familiennachzug nach § 36 Abs. 1 AufenthG sei nicht mehr möglich, weil der Stammberechtigte bereits volljährig sei. Eine außergewöhnliche Härte i.S.d. § 36 Abs. 2 AufenthG liege nicht vor.

5 Am 4. November 2016 haben der Kläger, seine Ehefrau und zwei (seinerzeit) minderjährige Kinder Klage auf Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung von Visa zum Zwecke der Familienzusammenführung erhoben. Der Stammberechtigte sei bei der insoweit maßgeblichen Antragstellung noch minderjährig gewesen. Zudem liege eine außergewöhnliche Härte vor, weil sich dieser aufgrund erlittener Traumata in psychotherapeutischer Behandlung befinde und ihrer Unterstützung bedürfe.

6 Mit Urteil vom 15. März 2018 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Einem Anspruch der (ehemaligen) Kläger aus § 6 Abs. 3 i.V.m. § 36 Abs. 1 AufenthG stehe entgegen, dass der Stammberechtigte nicht mehr minderjährig sei. Mit Eintritt der Volljährigkeit am 20. November 2015 sei der Nachzugsanspruch erloschen. Die Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG lägen nicht vor, weil es an der dafür erforderlichen außergewöhnlichen Härte fehle. Im Übrigen sei der Lebensunterhalt der Kläger nicht gesichert.

7 Auf den Antrag des Klägers und seiner Ehefrau hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts mit Beschluss vom 25. Januar 2019 zugelassen.

8 In der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht am 22. Mai 2019 wurde erörtert, dass der bei Visumantragstellung vorgelegte Reisepass des Klägers nur bis zum Oktober 2016 gültig gewesen sei. Den daraufhin von den (Unter-)Bevollmächtigten des Klägers beantragte Schriftsatznachlass bis zum 5. Juni 2019 lehnte das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss ab.

9 Mit Urteil vom 22. Mai 2019 hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts auf die Berufung der Ehefrau des Klägers geändert und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. September 2016 verpflichtet, ihr ein Visum zum Zwecke des Familiennachzugs zu erteilen; die Berufung des Klägers hat es zurückgewiesen.

10 Die Beklagte sei aus § 6 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 36 Abs. 1 AufenthG zur Erteilung des Visums zum Familiennachzug an die Ehefrau verpflichtet, da die Voraussetzungen der Norm erfüllt seien. Der Stammberechtigte sei im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bei der gebotenen unionskonformen Auslegung insbesondere auch minderjährig i.S.d. § 36 Abs. 1 AufenthG. Nach der Rechtsprechung des EuGH sei Art. 2 Buchst. f i.V.m. Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt gewesen sei, aber während des Asylverfahrens volljährig geworden und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei, als Minderjähriger im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sei. Diese bindende Auslegung des EuGH gebiete es, im Falle eines unbegleiteten Flüchtlings auch bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Minderjährigkeit in § 36 Abs. 1 AufenthG auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags abzustellen. Die gegen eine Übertragbarkeit bzw. Bindungswirkung der Entscheidung des EuGH gerichteten Einwände der Beklagten griffen nicht durch.

11 Die zulässige Berufung des Klägers sei indes unbegründet, weil die gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auch für die Erteilung eines Visums geltende allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG mangels gültigen Passes nicht erfüllt sei. Der im Rahmen der mündlichen Verhandlung beantragte Schriftsatznachlass sei nicht zu gewähren. Dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung sei der Vorrang einzuräumen, weil nicht erkennbar sei, dass der anwaltlich vertretene Kläger an der rechtzeitigen Vorlage eines gültigen Passes bzw. einer Erklärung hierzu gehindert gewesen sei. Die zwei Tage nach Verkündung des Urteils vorgelegte Fotokopie eines gültigen Reisepasses zur Akte könne nicht mehr berücksichtigt werden.

12 Die Beklagte und der Kläger haben die durch das Oberverwaltungsgericht zugelassene Revision eingelegt.

13 Zur Begründung seiner Revision macht der Kläger geltend, er sei im Besitz eines gültigen Reisepasses gewesen. Nur der vermeintliche Nachweis in der Akte habe gefehlt. Das Berufungsgericht hätte trotz seiner anwaltlichen Vertretung angesichts der wegen des Aufenthalts im Ausland fehlenden Möglichkeit seiner Anwesenheit und der Schwierigkeiten, mit ihm zeitnah zu kommunizieren, den beantragten Schriftsatznachlass gewähren müssen, um den fehlenden Nachweis erbringen zu können. Das Oberverwaltungsgericht hätte insoweit berücksichtigen müssen, dass während des gesamten zweieinhalbjährigen Verfahrens weder von den Gerichten noch von der Beklagten problematisiert worden sei, dass ein gültiger Reisepass fehlen würde. Kernproblem des Verfahrens sei eine Rechtsfrage gewesen. Deshalb sei auch eine Akteneinsicht in die Verfahrensakte der Beklagten nicht erforderlich gewesen. Das Berufungsgericht habe den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes und des Anspruchs auf rechtliches Gehör verletzt. Eine Stellungnahme des Verfahrensbevollmächtigten noch in der mündlichen Verhandlung sei aufgrund der fehlenden Verbindung und Kontaktmöglichkeiten nicht möglich gewesen. Das Beschleunigungsgebot wäre bei einem Schriftsatznachlass aufgrund der Umstände des Einzelfalls nicht verletzt gewesen. Bereits zwei Tage nach der mündlichen Verhandlung sei eine Kopie seines gültigen Reisepasses vorgelegt worden. Für den Besitz eines gültigen Passes habe auch gesprochen, dass er im Verwaltungsverfahren einen Pass vorgelegt habe, der nur habe verlängert werden müssen, und dass seine Ehefrau sich im Besitz eines gültigen Passes befunden habe.

14 Die Beklagte ist der Revision des Klägers entgegengetreten. Eine entscheidungserhebliche Verletzung des rechtlichen Gehörs liege nicht vor. Ein Schriftsatznachlass setze ein überraschendes neues Vorbringen voraus, auf das die Gegenseite mangels rechtzeitiger Mitteilung nicht erwidern könne. Davon sei bei der Erfüllung der elementaren Erteilungsvoraussetzung der Passpflicht nicht auszugehen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hätte Kenntnis haben müssen, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nur ein abgelaufener Pass vorliege.

15 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat erklärt, dass er sich nicht am Verfahren beteiligt.

16 Das Verfahren über die Revision der Beklagten und des Klägers ist zunächst unter dem Aktenzeichen 1 C 26.19 geführt worden. Mit Beschluss vom 23. April 2020 hat der Senat den Rechtsstreit hinsichtlich der Revision des Klägers zu 2 abgetrennt und unter dem vorliegenden Aktenzeichen fortgeführt.

II

17 Die zulässige Revision des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist mit ihrer Verfahrensrüge begründet. Die Ablehnung des von seinen (Unter-)Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht gestellten Antrages auf Schriftsatznachlass zum Nachweis eines gültigen Reisepasses verletzt den Kläger in seinem Recht auf rechtliches Gehör, worauf die Entscheidung auch beruht (§ 138 Nr. 3 VwGO) (1.) und führt gemäß § 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung (2.).

18 1. Den in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag der (Unter-)Bevollmächtigten des Klägerbevollmächtigten auf Schriftsatznachlass bis zum 5. Juni 2019 zur Klärung der Frage des Vorliegens eines gültigen Reisepasses hat das Oberverwaltungsgericht verfahrensfehlerhaft (§ 138 Nr. 3 VwGO) unter Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör durch den in der Sitzung verkündeten Beschluss abgelehnt. Die insoweit erhobene Verfahrensrüge des Klägers ist begründet.

19 Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Als Prozessgrundrecht soll es sicherstellen, dass die gerichtliche Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme oder Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (BVerwG, Urteil vom 4. Oktober 2012 - 1 C 13.11 - BVerwGE 144, 230 Rn. 10). Kann sich ein Beteiligter wegen eines in der mündlichen Verhandlung gegebenen richterlichen Hinweises oder wegen neuen Sachvortrags nicht abschließend äußern, muss das Gericht ihm eine Reaktionsfrist zubilligen, bei deren Bemessung zum einen den erforderlich werdenden rechtlichen Überlegungen und Nachprüfungen zu entsprechen, zum anderen aber auch zu berücksichtigen ist, ob dies voraussichtlich mit der Einholung neuer Informationen oder sonstiger tatsächlicher Nachforschungen verbunden sein wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. August 1978 - 7 C 79.77 u.a. - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 25 S. 15 f.). Insofern kommt sowohl eine Vertagung als auch die Gewährung eines Schriftsatznachlasses (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 283 ZPO) in Betracht (Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 103 Rn. 18 m.w.N.).

20 Eine begründete Verletzung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass der Beteiligte alle ihm eröffneten prozessualen und faktischen Möglichkeiten genutzt hat, sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BVerfG, Beschlüsse vom 25. Mai 1956 - 1 BvR 53/54 -, BVerfGE 5, 9 <10>; vom 16. Januar 1963 - 1 BvR 316/60 -, BVerfGE 15, 256 <267 f.> und vom 28. Januar 1970 - 2 BvR 319/62 - BVerfGE 28, 10 <14>). Bei neuem tatsächlichen Vorbringen muss er eine Unterbrechung, Vertagung oder eine Schriftsatzfrist beantragen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Dezember 1997 - 11 B 3.97 - Buchholz 451.171 § 6 AtG Nr. 1 S. 6). Das rechtliche Gehör ist im Fall einer Nichtverarbeitung von tatsächlichem Vorbringen eines Beteiligten erst dann verletzt, wenn der Vortrag aus der Perspektive des Gerichts für das angefochtene Urteil entscheidungserheblich gewesen wäre (BVerwG, Beschluss vom 16. November 2001 - 1 B 211.01 -, InfAuslR 2002, 150). Bei der Entscheidung, ob bei Vorliegen erheblicher Gründe ein Schriftsatznachlass gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 283 ZPO zu gewähren ist, hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen sowohl das Gebot der Verfahrensbeschleunigung als auch den Anspruch auf rechtliches Gehör zu berücksichtigen (BVerwG, Beschluss vom 23. April 2009 - 2 B 79.08 - juris Rn. 5).

21 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe erweist sich die Ablehnung des beantragten Schriftsatznachlasses als verfahrensfehlerhaft. Zwar hätte der Prozessbevollmächtigte des Klägers erkennen können, dass es nach Aktenlage an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Erfüllung der Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) fehlt. Gleichwohl hätte dem Kläger vorliegend aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls die Möglichkeit eingeräumt werden müssen, den Nachweis zum Besitz eines gültigen Passes kurzfristig nachzureichen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der Kläger im Ausland befindet, ohne das im vorliegenden Verfahren beantragte Visum nicht einreisen kann und deshalb auch nicht in der Lage war, persönlich an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Zum anderen war bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht Gegenstand der rechtlichen Erörterung allein die Frage, ob das Tatbestandsmerkmal der Minderjährigkeit des Stammberechtigten als erfüllt anzusehen ist. Weder das Gericht noch die Beklagte haben darauf hingewiesen, dass es an einem weiteren Tatbestandsmerkmal fehlt. Insofern wäre ein Hinweis aufgrund der Fürsorgepflicht des Gerichts auch deshalb angezeigt gewesen, weil der Kläger ursprünglich im Besitz eines gültigen Passes war, sodass lediglich zu klären gewesen wäre, ob dieser auch verlängert worden ist. Dies hätte das Gericht durch eine Anfrage im Vorfeld der mündlichen Verhandlung aufklären und dadurch einer Verfahrensverzögerung entgegenwirken können.

22 Zudem war zu berücksichtigen, dass der erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Berufungsinstanz angesprochene Umstand des - schon bei Klageerhebung - abgelaufenen Passes nicht dem bereits im Verwaltungsverfahren und im erstinstanzlichen Verfahren tätigen Hauptbevollmächtigten, sondern den Unterbevollmächtigten entgegengehalten wurde. Diese hatte der Hauptbevollmächtigte wegen der Ablehnung der Übernahme seiner Anreisekosten im Rahmen der gewährten Prozesskostenhilfe bevollmächtigt. Sie hatten den Hauptbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung telefonisch nicht erreichen können und sodann den Schriftsatznachlassantrag gestellt. Eine kurzfristige Kontaktaufnahme zu dem in Syrien bzw. der Türkei aufhältigen Kläger war nicht möglich. Die Unterbevollmächtigten hatten damit aus ihrer Sicht alles getan, die Frage in der Verhandlung zu klären. Die Entscheidung des Berufungsgerichts, dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung gegenüber einem kurzfristigen Schriftsatznachlass den Vorrang einzuräumen, wird auch der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits vorliegenden Verfahrensdauer von ca. zweieinhalb Jahren nicht gerecht. Insofern steht der Gewähr einer materiell richtigen Entscheidung nur eine kurzfristige Verzögerung gegenüber, die bei einem frühzeitigen Hinweis des Gerichts hätte vermieden werden können. Dass die Klärung innerhalb der nachgelassenen Frist möglich war, zeigt die Vorlage der Kopie eines gültigen Passes zwei Tage nach der mündlichen Verhandlung.

23 2. Wegen Vorliegens des absoluten Revisionsgrundes des § 138 Nr. 3 VwGO ist das Urteil des Oberverwaltungsgerichts, soweit es den (ehemaligen) Kläger zu 2 betrifft, aufzuheben und der Rechtsstreit gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen. Aus der Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung des Visums an die Ehefrau des Klägers auf Grundlage von § 6 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 36 Abs. 1 AufenthG ergibt sich, dass das Fehlen eines gültigen Passes der einzige Grund für die Abweisung der Klage des Klägers und damit für das Oberverwaltungsgericht insoweit allein entscheidungserheblich war.

24 Der Senat kann über den Rechtsstreit nicht abschließend entscheiden (§ 144 Abs. 3 Nr. 1 VwGO), weil es an der für das Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Erfüllung der Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) erforderlichen tatsächlichen Feststellung fehlt. Das Oberverwaltungsgericht hat zwar zur Kenntnis genommen, dass der Kläger zwei Tage nach Urteilsverkündung die Fotokopie eines gültigen Reisepasses vorgelegt hat, diesen Umstand aber ausdrücklich nicht berücksichtigt (UA S. 15). Damit fehlt es an einer abschließenden tatrichterlichen Würdigung, ob mit der vorgelegten Kopie der erforderliche Nachweis erbracht ist.

25 Das Oberverwaltungsgericht wird bei seiner Entscheidungsfindung zu berücksichtigen haben, dass das Bundesverwaltungsgericht den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) um eine Vorabentscheidung zu den Fragen ersucht hat, ob der vom EuGH im Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 - zugrunde gelegte Zeitpunkt für das Bestehen der Minderjährigkeit beim Elternnachzug auch dann zur Zulassung des Familiennachzuges führt, wenn - wie nach deutscher Rechtslage - den Eltern ein Aufenthaltsrecht zur Familienzusammenführung nur bis zur Volljährigkeit des Kindes zusteht, ob der Familienzusammenführungsantrag deswegen in Anwendung von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG abgelehnt werden darf und welche Anforderungen an das Bestehen von tatsächlichen familiären Bindungen i.S.v. Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG zwischen den nachziehenden Eltern und dem inzwischen volljährig gewordenen Flüchtling zu stellen sind (BVerwG, Beschlüsse vom 23. April 2020 - 1 C 9.19 und 1 C 10.19 -).

26 3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.