Pressemitteilung Nr. 46/2020 vom 11.08.2020

Zuständigkeit Deutschlands für die Prüfung des Asylantrags eines nachgeborenen Kindes jedenfalls bei Fehlen eines fristgerechten Aufnahmegesuchs

Die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags eines in Deutschland nachgeborenen Kindes, dessen Eltern zuvor in einem anderen EU-Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist, geht jedenfalls gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-Verordnung auf Deutschland über, wenn nicht binnen drei Monaten der andere Mitgliedstaat um Aufnahme des Kindes ersucht worden ist. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschieden.


Die im Juni 2018 in Deutschland geborene Klägerin ist Kind somalischer Staatsangehöriger, denen in Italien internationaler Schutz gewährt worden war. Der nach der Einreise nach Deutschland gestellte (erneute) Asylantrag der Eltern wurde wegen der Schutzgewährung in einem anderen EU-Mitgliedstaat nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt. Mit Bescheid vom November 2018 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) auch den Asylantrag der Klägerin nach § 29 Abs. 1 Nr. 1. Buchst. a) AsylG wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit als unzulässig ab und drohte die Abschiebung nach Italien an. Nach Art. 20 Abs. 3 Dublin III-Verordnung sei die Situation des Kindes untrennbar mit der Situation seiner Eltern verbunden, weshalb die Prüfung des Asylantrags in die Zuständigkeit desjenigen Mitgliedstaates falle, der für die Prüfung des Asylantrags der Eltern zuständig sei. Das Verwaltungsgericht hat der hiergegen gerichteten Klage stattgegeben. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Art. 20 Abs. 3 Dublin III-Verordnung begründe weder in erweiternder Auslegung noch in analoger Anwendung eine Zuständigkeit Italiens für die Prüfung des Asylbegehrens der Klägerin. Im Übrigen sei der Bescheid auch deswegen rechtswidrig, weil Deutschland es versäumt habe, binnen drei Monaten nach der Antragstellung der Klägerin gemäß Art. 21 Abs. 1 Dublin III-Verordnung ein Aufnahmegesuch an Italien zu richten.


Der 1. Revisionssenat hat die Entscheidung des Berufungsgerichts im Ergebnis bestätigt. Nicht abschließend entschieden hat der Senat, ob bei Asylanträgen von im Bundesgebiet nachgeborenen Kindern von Drittstaatsangehörigen, denen zuvor bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die Zuständigkeitsregelung des Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 1 Dublin III-Verordnung erweiternd auszulegen oder analog anzuwenden ist und somit der Mitgliedstaat, der den Eltern Schutz gewährt hat, auch für das Schutzgesuch des Kindes zuständig ist, sofern dies dessen Wohl dient. Diese in der Rechtsprechung umstrittene Frage von unionsrechtlicher Bedeutung war für die Entscheidung nicht zu klären, weil das Berufungsgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass eine hiernach etwa begründete Zuständigkeit Italiens für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin jedenfalls auf Deutschland übergegangen wäre (Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-Verordnung).


Das Bundesamt hat es versäumt, binnen drei Monaten nach der Asylantragstellung der Klägerin ein Aufnahmegesuch an Italien zu richten. Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 Dublin III-VO, nach dem bei nachgeborenen Kindern für diese kein neues Zuständigkeitsverfahren eingeleitet werden muss, ist selbst bei entsprechender Anwendung der Zuständigkeitsregelung (Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 1 Dublin III-Verordnung) nicht analog anzuwenden, wenn das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren für die Eltern bereits abgeschlossen und diesen durch einen anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist. Das nachgeborene Kind kann dann nicht (mehr) in ein Zuständigkeits- und Überstellungsverfahren seiner Eltern einbezogen werden. Bedarf es folglich für das Kind eines eigenständigen Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens nach der Dublin III-VO, sind nicht zuletzt zur zwischenstaatlichen Klärung der internationalen Zuständigkeit auch die in Art. 21 ff. Dublin III-Verordnung geregelten Verfahren und Fristen zu beachten.


Eine Umdeutung des Bundesamtsbescheides in eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, der auch nicht entsprechend anzuwenden ist, scheidet ebenfalls aus. Es fehlt an den tatbestandlichen Voraussetzungen bzw. einer Regelungslücke.


BVerwG 1 C 37.19 - Urteil vom 23. Juni 2020

Vorinstanzen:

OVG Schleswig, 1 LB 5/19 - Urteil vom 07. November 2019 -

VG Schleswig, 10 A 645/18 - Urteil vom 02. September 2019 -


Urteil vom 23.06.2020 -
BVerwG 1 C 37.19ECLI:DE:BVerwG:2020:230620U1C37.19.0

Zuständigkeitsübergang bei fehlendem Aufnahmegesuch nach Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO

Leitsätze:

1. Art. 20 Abs. 3 Satz 1 und 2 Dublin III-VO, wonach die Situation von Kindern eines Asylantragstellers, die nach dessen Ankunft im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, untrennbar mit der Situation dieses Elternteils verbunden ist und in die Zuständigkeit desjenigen Mitgliedstaats fällt, der für die Prüfung des Antrags des Elternteils auf internationalen Schutz zuständig ist, kann auf den Asylantrag eines im Bundesgebiet nachgeborenen Kindes, dessen Eltern zuvor bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union internationalen Schutz erhalten haben, jedenfalls nicht in der Weise analog angewendet werden, dass es in dieser Fallkonstellation auch nicht der Einleitung eines eigenen Zuständigkeitsverfahrens für das Kind gemäß Art. 20 Abs. 3 Satz 2 letzter Halbsatz Dublin III-VO bedarf.

2. Der Mitgliedstaat, in dem ein nachgeborenes Kind seinen Asylantrag gestellt hat, ist deshalb jedenfalls dann für dessen Prüfung zuständig, wenn er den Mitgliedstaat, der den Eltern internationalen Schutz gewährt hat, nicht binnen der in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO genannten Fristen um die Aufnahme des Kindes ersucht hat (vgl. Art. 21 Abs. 3 Dublin III-VO).

  • Rechtsquellen
    AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1. Buchst. a), § 34 a Abs. 1 Satz 4, § 77 Abs. 1
    Dublin III-VO Art. 3, Art. 20 Abs. 3, Art. 21 Abs. 1

  • VG Schleswig - 02.09.2019 - AZ: VG 10 A 645/18
    OVG Schleswig - 07.11.2019 - AZ: OVG 1 LB 5/19

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 23.06.2020 - 1 C 37.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:230620U1C37.19.0]

Urteil

BVerwG 1 C 37.19

  • VG Schleswig - 02.09.2019 - AZ: VG 10 A 645/18
  • OVG Schleswig - 07.11.2019 - AZ: OVG 1 LB 5/19

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Juni 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Schleswig-Holstein vom 7. November 2019 wird zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Die Klägerin, eine somalische Staatsangehörige, wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrags als unzulässig und die Androhung ihrer Abschiebung nach Italien.

2 Die Klägerin wurde im Juni 2018 im Bundesgebiet geboren. Ihren Eltern war im Rahmen eines in Italien durchgeführten Asylverfahrens dort internationaler Schutz gewährt worden. Sie reisten nach eigenen Angaben im Mai 2018 in das Bundesgebiet ein und stellten am 13. August 2018 für sich und die Klägerin Asylanträge. Der Asylantrag der Eltern der Klägerin wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 29. November 2018 gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt; ferner wurde ihnen die Abschiebung nach Italien angedroht.

3 Mit Bescheid vom 29. November 2018 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, andernfalls sie nach Italien abgeschoben werde (Ziffer 3), und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Der Asylantrag sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 1. Buchst. a) AsylG unzulässig, da nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) Italien für die Prüfung des Asylantrags zuständig sei. Es bedürfe nicht der Einleitung eines Zuständigkeitsverfahrens für das nachgeborene Kind, weil Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO über eine erweiternde Auslegung bzw. analog Anwendung finde. Hiernach sei die Situation des Kindes untrennbar mit der Situation seiner Eltern verbunden und die Zuständigkeit desjenigen Mitgliedstaates gegeben, der für die Prüfung des Asylantrages der Eltern zuständig sei.

4 Das Verwaltungsgericht hob den Bescheid des Bundesamtes mit Gerichtsbescheid vom 2. September 2019 auf.

5 Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 7. November 2019 zurückgewiesen. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sei rechtswidrig. Aus der Dublin III-VO folge nicht die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin als eines sogenannten nachgeborenen, d.h. in der Bundesrepublik Deutschland nach Abschluss des Asylverfahrens seiner Eltern in einem anderen Mitgliedstaat der EU geborenen Kindes. Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO begründe weder in direkter Anwendung noch in erweiternder Auslegung bzw. analoger Anwendung eine Zuständigkeit Italiens. Im Übrigen wäre die Zuständigkeit selbst bei analoger Anwendung nach Art. 20 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO auf Deutschland übergegangen, weil es die Beklagte versäumt habe, binnen 3 Monaten nach der Asylantragstellung der Klägerin ein Aufnahmegesuch an Italien zu richten.

6 Die Beklagte macht mit ihrer Revision geltend, dass in analoger bzw. erweiternder Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin als zuständig anzusehen sei, der bereits ihren Eltern internationalen Schutz zuerkannt habe. Es bestehe eine unionsrechtliche Regelungslücke, da es an einer Vorschrift fehle, die - wie Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO - eine Akzessorietät zwischen dem Verfahren des Minderjährigen und dem Verfahren seiner bereits in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten Familienangehörigen regele. Die Anwendbarkeit des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO habe zur Folge, dass von der Beklagten kein neues Zuständigkeitsverfahren für das Kind eingeleitet werden müsse und folglich auch die Aufnahmegesuchfristen des (insoweit teleologisch reduzierten) Art. 21 Abs. 1 Dublin-III-VO nicht anwendbar seien.

7 Die Klägerin verteidigt die angegriffene Entscheidung.

8 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren und schließt sich der Auffassung der Beklagten an.

II

9 Die Revision der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen, unter denen ein Asylantrag wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit unzulässig ist, liegen nicht vor. Der Senat braucht nicht abschließend zu entscheiden, ob die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zutrifft, dass im Falle eines Asylantrags eines im Bundesgebiet nachgeborenen Kindes von Drittstaatsangehörigen, denen bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist, Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO weder erweiternd ausgelegt noch analog angewendet werden kann und daher für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin Deutschland als derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, in dem die Klägerin ihren Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat (Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO). Im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO) steht jedenfalls die das Urteil selbstständig tragende Annahme des Berufungsgerichts, dass das Fehlen eines fristgerechten Aufnahmegesuchs nach Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO die Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1. Buchst. a) Asylgesetz zur Folge hat, auf die sich die Klägerin auch berufen kann (1.). Zu Recht hat das Berufungsgericht auch die Aufhebung der Folgeentscheidungen über das Nichtbestehen von Abschiebungsverboten betreffend Italien, die Abschiebungsandrohung und ein auf 30 Monate befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot bestätigt (2.)

10 Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch das am 26. November 2019 in Kraft getretene Zweite Gesetz zur Anpassung des Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 vom 20. November 2019 (BGBl. I S. 1626) - AsylG - sowie die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L. 180 S. 31 - Dublin III-VO).

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts eintreten, im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Berufungsgericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Rechtsgrundlage zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 12).

12 1.1 Die Klage ist, soweit sie sich gegen die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des Bescheides des Bundesamtes richtet, als Anfechtungsklage statthaft (BVerwG, Urteile vom 27. Oktober 2015 - 1 C 32.14 - BVerwGE 153, 162 Rn. 13 f. und vom 26. Februar 2019 - 1 C 30.17 - Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 6 Rn. 12) und auch im Übrigen zulässig.

13 1.2 Die Klage ist insoweit auch begründet. Das Berufungsgericht ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt.

14 a) Die Voraussetzungen des als Rechtsgrundlage herangezogenen § 29 Abs. 1 Nr. 1. Buchst. a) AsylG liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das ist hier nicht der Fall, vielmehr ist die Bundesrepublik Deutschland für das Asylverfahren der Klägerin zuständig.

15 aa) Es bedarf keiner Entscheidung, ob sich die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland vorliegend schon daraus ergibt, dass es sich im Sinne der Auffangnorm des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO um den ersten Mitgliedstaat handelt, in dem der Antrag des Kindes auf internationalen Schutz gestellt wurde. Dies würde voraussetzen, dass - wie vom Berufungsgericht angenommen - die in Art. 20 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 Dublin III-VO normierte verfahrensmäßige Anlehnung an die Zuständigkeit für das Verfahren der Eltern auf die vorliegende Fallkonstellation schon im Ansatz weder unmittelbar noch analog anzuwenden ist und dass sich auch anhand der dann in den Blick zu nehmenden primären Zuständigkeitskriterien nach Kapitel III der Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen lässt. Das Berufungsgericht (UA S. 10 ff.) hat insoweit zutreffend herausgearbeitet, dass zumindest eine unmittelbare Anwendung der in Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO geregelten Verfahrensakzessorietät auf die Klägerin ausscheidet. Danach ist für die Zwecke dieser Verordnung die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient (Satz 1). Ebenso wird bei Kindern verfahren, die nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss (Satz 2). Die Klägerin ist zwar nach der Ankunft ihrer Eltern im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren; ihre Eltern sind aber keine Antragsteller (mehr), deren aktuell in Deutschland gestellte Asylanträge ein Dublin-Verfahren in Gang gesetzt haben, in das die Klägerin einbezogen werden könnte. Denn wie sich aus Art. 23 Abs. 1 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin III-VO ergibt, kann ein Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat im Rahmen der in dieser Verordnung festgelegten Verfahren nicht wirksam um Wiederaufnahme eines Drittstaatsangehörigen ersuchen, der im erstgenannten Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem ihm durch den letztgenannten Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt wurde (vgl. EuGH, Beschluss vom 5. April 2017 - C-36/17 [ECLI:​EU:​C:​2017:​273], Ahmed - Rn. 41; siehe auch Art. 2 Buchst. c) und f) sowie Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO). Ob das unionsrechtliche Anliegen einer Vermeidung von Sekundärmigration und gegebenenfalls der in der Dublin III-VO zum Ausdruck kommende allgemeine Grundsatz der Familieneinheit (insbesondere Erwägungsgrund 16) eine analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO auf nachgeborene Kinder von international Schutzberechtigten in Bezug auf die Zuständigkeitsbestimmung rechtfertigen können (so etwa VGH Mannheim, Beschluss vom 14. März 2018 - A 4 S 544/18 -; OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Februar 2019 - 10 LA 218/18 -; OVG Saarlouis, Beschluss vom 29. November 2019 - 2 A 283/19 -; VG Cottbus, Beschluss vom 11. Juli 2014 - 5 L 190/14.A -; VG Greifswald, Urteil vom 22. Mai 2017 - 4 A 1526/16 As HGW -; VG Lüneburg, Urteil vom 14. Februar 2018 - 4 A 491/17 - <vorbehaltlich des Kindeswohles>; VG Berlin, Beschluss vom 23. August 2018 - 23 K 367.18 A -; VG Schwerin, Urteil vom 30. April 2019 - 3 A 1851/18 SN -; VG Würzburg, Beschluss vom 18. September 2019 - W 10 S 19.50614 -; im Ergebnis s.a. OVG Bautzen, Beschluss vom 5. August 2019 - 5 A 593/19. A -; VG Saarlouis, Urteil vom 29. Juli 2019 - 3 K 678/18 -; a.A. etwa VG Lüneburg, Urteil vom 24. Mai 2016 - 5 A 194/14 -; VG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Juni 2017 - 22 L 1290/17.A -; VG Hamburg, Urteil vom 20. März 2018 - 9 A 7382/16 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 11. Juni 2018 - 28 K 1506/17.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 24. August 2018 - 12 K 16165/17.A -; VG Köln, Urteil vom 31. Juli 2018 - 14 K 4762/18.A - <analoge Anwendung von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU>; VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 11. September 2018 - RN 14 K 17.33302 -; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 3. März 2020 - 2 K 538/15.A -; wohl auch VG Karlsruhe, Urteil vom 22. Januar 2019 - A 13 K 1357/16 -; s.a. Broscheit. Die Unzulässigkeit von Asylanträgen der in Deutschland geborenen Kindern im EU-Ausland anerkannter Schutzberechtigter, InfAuslR 2018, 41), was schwerlich ohne eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) bejaht werden könnte, kann der Senat offenlassen.

16 bb) Eine etwaige Zuständigkeit Italiens wäre jedenfalls gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO dadurch auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen, dass die Beklagte Italien nicht innerhalb der in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO genannten Fristen ein Gesuch um Aufnahme der Klägerin unterbreitet hat. Diese selbstständig tragende Begründung des Berufungsurteils (UA S. 21 ff.) steht im Einklang mit Bundesrecht. Die Sonderregelung in Art. 20 Abs. 3 Satz 2 letzter Halbsatz Dublin III-VO, wonach es der Einleitung eines "neuen Zuständigkeitsverfahrens" für das Kind nicht bedarf, macht ein solches Aufnahmegesuch hier auch dann nicht entbehrlich, wenn es im Grundsatz möglich wäre, die Zuständigkeit für das nachgeborene Kind weitergewanderter schutzberechtigter Eltern aus einer analogen Anwendung dieser Verfahrensvorschrift herzuleiten. Denn zumindest diese Sonderregelung ist auf die hier vorliegende Konstellation eines Kindes bereits schutzberechtigter Eltern nicht analog anwendbar (ebenso etwa Broscheit, InfAuslR 2018, 41 <44>).

17 Die analoge Anwendung einer Rechtsvorschrift setzt neben einer planwidrigen Lücke auch eine vergleichbare Interessenlage zwischen untersuchtem und geregeltem Fall voraus (vgl. Generalanwalt Cruz Villalón, Schlussanträge vom 29. April 2014 im Verfahren C-399/12, Rn. 103 m.w.N.). Für eine analoge Anwendung des in Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 Dublin III-VO geregelten Absehens von einem neuen Zuständigkeitsverfahren für minderjährige Familienangehörige auch auf Asylanträge von Kindern, deren Eltern in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde, fehlt es indes an der Wertungsgleichheit bzw. Vergleichbarkeit von geregeltem und ungeregeltem Sachverhalt.

18 Bereits aus der systematischen Stellung der Verfahrensakzessorietät nach Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO als einleitende Vorschrift des Kapitels VI der Verordnung - Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren - ergibt sich, dass diese zunächst nur für noch nicht abgeschlossene Verfahren gilt. Art. 20 Dublin III-VO regelt in Abs. 1 die Einleitung des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens und sieht in Abs. 3 für Minderjährige die Zuständigkeit des Mitgliedstaates vor, der (auch) für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz des Familienangehörigen zuständig ist. Solange ein Zuständigkeitsbestimmungsverfahren für den Schutzantrag der Eltern noch nicht abgeschlossen ist, unterfällt dieser dem Anwendungsbereich der Verordnung, der (erst) mit dem Abschluss des Verfahrens endet. In ein so laufendes Verfahren ist der Schutzantrag des Kindes einzubeziehen. Wird den Eltern dagegen internationaler Schutz durch einen Mitgliedstaat gewährt, können sie nach (illegaler) Sekundärmigration und einem erneuten Antrag in einem anderen Mitgliedstaat nicht mehr im Rahmen des Dublin-Regimes, sondern nur auf anderer Rechtsgrundlage (z.B. bilaterale Rückführungsabkommen) in den Schutz gewährenden Mitgliedstaat zurückgeführt werden.

19 Bedürfte es in dieser Situation nicht der Durchführung eines Zuständigkeitsverfahrens, wäre eine Überstellung im Rahmen des Dublin-Systems vorgesehen, ohne dass der Aufnahmemitgliedstaat Kenntnis von einer möglichen Aufnahmesituation - und sei es im Rahmen eines Aufnahmeverfahrens in Bezug auf die Eltern - erlangt hätte. Es entfiele der Schutz durch das Fristenregime des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahrens des Dublin-Systems. Das Kind könnte anders als jeder andere dem Dublin-Verfahren unterworfene Asylbewerber ohne die dort vorgesehenen zeitlichen Grenzen an den anderen Mitgliedstaat überstellt werden. Zudem entfiele die Stufung zwischen dem Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahren (Kapitel VI Dublin III-VO) und der Überstellung (Kapitel VI Dublin III-VO), bei der auch zwischen den Mitgliedstaaten die internationale Zuständigkeit als bereits geklärt vorausgesetzt wird. Ohne ein Aufnahmeverfahren bestünde erst im Überstellungsverfahren Gelegenheit, für das nachgeborene Kind zu klären, ob der Mitgliedstaat, der den Eltern internationalen Schutz gewährt hat, seine Zuständigkeit für das Asylverfahren des Kindes analog Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO anerkennt und zu dessen Aufnahme bereit ist. Lehnt der ersuchte Mitgliedstaat die Aufnahme eines nachgeborenen Kindes ab, kann der ersuchende Mitgliedstaat das in Art. 37 Dublin III-VO geregelte Schlichtungsverfahren in Anspruch nehmen.

20 Der Verzicht auf die Durchführung des Aufnahmeverfahrens würde demgegenüber die Gefahr einer "refugee in orbit"-Situation begründen, in der sich kein Mitgliedstaat für die sachliche Prüfung des Asylantrags als zuständig ansieht. Dies liefe dem zentralen Anliegen des Dublin-Regimes zuwider, einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährleistung internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden (Erwägungsgrund 5 der Dublin III-VO; BVerwG, Urteile vom 9. August 2016 - 1 C 6.16 - BVerwGE 156, 9 Rn. 23 und vom 27. April 2016 - 1 C 24.15 - Buchholz 451.902 Europ. Ausländer- und Asylrecht Nr. 82 Rn. 20). Nach alledem sieht der Senat jedenfalls keinen Raum für eine analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO, die sich auch auf den Verzicht auf ein gesondertes Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach Satz 2 letzter Halbsatz dieser Vorschrift erstreckte. Auch eine Staatspraxis, dass dies in einem oder gar mehreren anderen Mitgliedstaaten so praktiziert werde, ist weder vorgetragen noch dem Senat ersichtlich. Der Senat sieht in Bezug auf die unionsrechtliche Notwendigkeit eines Aufnahmeverfahrens in der vorliegenden Fallkonstellation keinen Anlass zu Zweifeln und daher nach der "acte-clair"-Doktrin keine Veranlassung zu einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union.

21 cc) Nach den den Senat bindenden tatrichterlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) hat die Beklagte an Italien weder ein Aufnahmegesuch gerichtet noch Italien über die Geburt der Klägerin unterrichtet. Die in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 bzw. 2 Dublin III-VO vorgesehenen Fristen für das Aufnahmegesuch sind seit langem verstrichen. Das Berufungsgericht hat daher ohne Verletzung von Bundesrecht angenommen, dass die Bundesrepublik Deutschland selbst im Falle einer ursprünglichen Zuständigkeit Italiens jedenfalls nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin zuständig geworden wäre. Auf den Ablauf dieser Frist kann sich die Klägerin nach der Rechtsprechung des EuGH im Rahmen ihrer hier zur Entscheidung stehenden Klage gegen die Überstellungsentscheidung auch berufen (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-670/16 [ECLI:​EU:​C:​2017:​587], Mengesteab - Rn. 41 ff., 62).

22 b) Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides kann auch nicht als Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG aufrechterhalten oder in eine solche Entscheidung umgedeutet werden. Dies scheitert jedenfalls daran, dass die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht vorliegen. Nach dieser Vorschrift, die Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU umsetzt, ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dies ist bei der in Deutschland geborenen Klägerin, die im Bundesgebiet erstmals einen Asylantrag gestellt hat, nicht der Fall. Nach der zutreffenden Rechtsauffassung des Berufungsgerichts kann die Regelung auch nicht deshalb auf die Klägerin analog angewandt werden, weil ihre Eltern Begünstigte internationalen Schutzes sind. Auf die dortigen Ausführungen (UA S. 25 ff.) wird Bezug genommen. Der EuGH hat im Übrigen mehrfach betont, dass Art. 33 Abs. 2 RL 2013/32/EU die Situationen, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können, abschließend aufzählt (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 [ECLI:​EU:​C:​2019:​219], Ibrahim u.a. - Rn. 76 und vom 19. März 2020 - C-564/18 [ECLI:​EU:​C:​2020:​218], Hivatal - Rn. 29 f.).

23 2. Da sich die Unzulässigkeitsentscheidung nach dem oben Aufgeführten als rechtswidrig erweist, hat das Berufungsgericht zu Recht auch die Aufhebung der - damit ebenfalls rechtswidrigen - Folgeentscheidungen über das Nichtbestehen von Abschiebungsverboten in Bezug auf Italien, die Abschiebungsandrohung und ein auf 30 Monate befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot bestätigt.

24 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.