Beschluss vom 24.01.2025 -
BVerwG 20 F 22.22ECLI:DE:BVerwG:2025:240125B20F22.22.0
Leitsatz:
Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des freien Mandats (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) verlangt auch Beachtung, wenn der Abgeordnete Auskunft über die vom Verfassungsschutz zu ihm gespeicherten personenbezogenen Daten begehrt und die oberste Aufsichtsbehörde die Vorlage der entsprechenden Akten oder elektronischen Dokumente gemäß § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO verweigern will.
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Rechtsquellen
GG Art. 38 Abs. 1 Satz 2 VwGO § 99 Abs. 1, § 189 LV-BW Art. 27 Abs. 3 LVSG-BW § 13 -
Instanzenzug
VGH Mannheim - 12.09.2022 - AZ: 17 S 1609/22
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 24.01.2025 - 20 F 22.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:240125B20F22.22.0]
Beschluss
BVerwG 20 F 22.22
- VGH Mannheim - 12.09.2022 - AZ: 17 S 1609/22
In der Verwaltungsstreitsache hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts
für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 24. Januar 2025
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Langer und Dr. Scheffczyk
beschlossen:
- Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 17. Senats des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 12. September 2022 geändert. Die Sperrerklärung des Ministeriums für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg vom 15. Februar 2021 ist auch rechtswidrig, soweit sie sich - mit Ausnahme der dortigen Akten- und Personenkennzeichen - auf die Nummern 1.16 und 1.17 (Blatt 28 und 34 der Verfahrensakte) bezieht.
- Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Beklagte.
Gründe
I
1 Die Klägerin begehrt in der diesem Zwischenverfahren zugrunde liegenden Hauptsache, das beklagte Land zu verpflichten, ihr gemäß § 13 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg (LVSG-BW) Auskunft über die zu ihrer Person gespeicherten personenbezogenen Daten zu erteilen.
2 Die Klägerin war von 2016 bis 2021 Abgeordnete im Landtag von Baden-Württemberg und gehörte dort der AfD-Fraktion an; seit 2021 ist sie Mitglied des Deutschen Bundestags. Unter Hinweis auf ihre Abgeordnetenstellung beantragte sie mit Schreiben vom 14. November 2019 beim beigeladenen Ministerium Auskunft über die zu ihrer Person gespeicherten Daten und über eine Beobachtung durch Behörden in dessen Geschäftsbereich.
3 Mit Bescheid vom 6. April 2020 erteilte das Landesamt für Verfassungsschutz der Klägerin Auskunft über die personenbezogenen Daten, mit der sie bei ihm erfasst sei (Name, Vorname, Geburtsdatum, Facebook-Profil und Homepage), und listete (in jeweils einem Satz) insgesamt sechs Einzelerkenntnisse über die Klägerin auf; eine weitergehende Auskunft unterbleibe gemäß § 13 Abs. 2 LVSG. Den von der Klägerin hiergegen erhobenen Widerspruch wies das Landesamt für Verfassungsschutz mit Bescheid vom 28. Juli 2020 zurück.
4 Mit der hiergegen zum Verwaltungsgericht ... erhobenen Klage begehrt die Klägerin weitere Auskunft über die zu ihr gespeicherten personenbezogenen Daten.
5 Auf die Aufforderung des Verwaltungsgerichts, die vollständigen Originalunterlagen vorzulegen, hat das Landesamt für Verfassungsschutz eine teilgeschwärzte Verfahrensakte (Schwärzungen auf 34 von 92 Seiten, ein Blatt entnommen) und eine dazugehörige Sperrerklärung des Beigeladenen vom 15. Februar 2021 übermittelt. Bei den geschwärzten Passagen stünden das Wohl des Landes - in Gestalt der Sicherung der Aufgabenerfüllung des Landesamts für Verfassungsschutz - sowie das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht resultierende private Geheimschutzinteresse Dritter einer Offenlegung entgegen.
6 Auf den Antrag der Klägerin, festzustellen, dass die Sperrerklärung rechtswidrig sei, hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 6. Juli 2022 festgestellt, dass es die Vorlage von 20 im einzelnen bezeichneten Seiten mit Schwärzungen sowie der entnommenen Seite für entscheidungserheblich erachte. Mit Schreiben vom 15. Juli 2022 hat der Beigeladene erklärt, dass er an der Sperrerklärung festhalte. Das Verwaltungsgericht hat daraufhin die Sache unter dem 21. Juli 2022 an den Fachsenat des Verwaltungsgerichtshofs zur Durchführung eines Zwischenverfahrens nach § 99 Abs. 2 VwGO abgegeben.
7 Mit Beschluss vom 12. September 2022 hat der Fachsenat des Verwaltungsgerichtshofs festgestellt, dass die Sperrerklärung vom 15. Februar 2021 rechtswidrig ist, soweit sie bestimmte, im Einzelnen bezeichnete Passagen der Verfahrensakte betrifft, und im Übrigen den Antrag der Klägerin abgelehnt.
8 Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin, die sie auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Sperrerklärung in Bezug auf zwei konkrete Passagen (Nr. 1.16 und Nr. 1.17, jeweils auf Blatt 28 und 34 der Verfahrensakte) beschränkt hat. Zur Begründung führt sie aus, ihr gehe es darum, mittels des Auskunftsverlangens festzustellen, inwieweit über sie und ihre Tätigkeit als Abgeordnete durch das Landesamt für Verfassungsschutz Informationen gesammelt und verarbeitet werden, um dies sodann prüfen und ggf. dagegen einschreiten zu können. Sie halte das Sammeln dieser Informationen im Hinblick auf das freie Mandat im Sinne des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und des Art. 27 Abs. 3 Satz 2 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg (LV-BW) für rechtswidrig. Bei den beanstandeten Passagen sei nicht auszuschließen, dass es sich um Informationen handele, die über ihre parlamentarischen Mitarbeiter, Kollegen und Kontakte und damit über den vertraulichen Kernbereich ihrer parlamentarischen Tätigkeit gesammelt worden seien.
II
9 Die zulässige Beschwerde ist begründet.
10 1. Die Beschwerde richtet sich gegen die Sperrerklärung, soweit diese sich auf die Nummern 1.16 und 1.17 auf den - textidentischen - Blatt 28 bzw. 34 des Verwaltungsvorgangs bezieht. Das Beschwerdebegehren lässt nicht eindeutig erkennen, ob damit auch die Schwärzung der Akten- und Personenkennzeichen angegriffen wird, die in den Nummern 1.16 und 1.17 wie in allen anderen Nummern des Vorgangs enthalten sind. Der Beigeladene hat die Schwärzungen dieser organisatorischen Zeichen zusammengefasst und "vor die Klammer gezogen" begründet (Seite 10 f. unter Nr. 1.1). Auch der Fachsenat des Verwaltungsgerichtshofs hat diese Schwärzungen zusammengefasst geprüft und - rechtlich zutreffend - gebilligt (Seite 19 f. des Beschlusses). Nachdem die Klägerin im Übrigen die zahlreichen Schwärzungen von Aktenzeichen und ähnlichen organisatorischen Zeichen nicht beanstandet, geht der Senat davon aus, dass sie dies auch insoweit nicht beabsichtigt und Gegenstand der vorliegenden Beschwerde nur der sachliche Inhalt der Nummern 1.16 und 1.17 ist.
11 2. Mit diesem Gegenstand hat die Beschwerde Erfolg.
12 Die Sperrerklärung des Beigeladenen vom 15. Februar 2021 ist auch rechtswidrig, soweit sie sich - mit Ausnahme der dortigen Akten- und Personenkennzeichen - auf die Schwärzung der Nummern 1.16 und 1.17 bezieht. Sie trägt insoweit der Bedeutung nicht Rechnung, die sich bei der Berufung auf Geheimhaltungsgründe und bei der Ermessensausübung im Sinne von § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO aus dem Abgeordnetenstatus der Klägerin und ihrem freien Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 27 Abs. 3 Satz 2 LV-BW) ergibt.
13 a) Das Bundesverfassungsgericht hat für die Beobachtung von Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes aus der Gewährleistung des freien Mandats (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) Grundsätze und einschränkende rechtliche Maßgaben entwickelt, die über Art. 28 Abs. 1 GG sowie unmittelbar über die entsprechende Norm des Landesverfassungsrechts (hier: Art. 27 Abs. 3 Satz 2 LV-BW) auch für die Mitglieder der Volksvertretungen in den Ländern gelten (vgl. zum gesamten Folgenden BVerfG, Beschluss vom 17. September 2013 - 2 BvE 6/08 u. a. - BVerfGE 134, 141 Rn. 91, 98, 100 ff., 107 f., 119 f. - Ramelow).
14 Das freie Mandat gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet die freie Willensbildung des Abgeordneten und damit auch eine von staatlicher Beeinflussung freie Kommunikationsbeziehung zwischen dem Abgeordneten und den Wählerinnen und Wählern. Dabei ist der Gewährleistungsgehalt des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf das gesamte politische Handeln des Abgeordneten bezogen und umfasst nicht nur dessen Tätigkeit im parlamentarischen Bereich. Die Sphären des Abgeordneten "als Mandatsträger", "als Parteimitglied" sowie als politisch handelnder "Privatperson" lassen sich nicht strikt trennen; die parlamentarische Demokratie fordert insoweit den Abgeordneten als ganzen Menschen. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet in diesem Zusammenhang auch die Freiheit der Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung und Kontrolle und steht insoweit in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG etabliert insoweit einen spezifischen Kontrollzusammenhang zwischen Bundestag und Bundesregierung, der von den gewählten Abgeordneten ausgeht und mit dem demokratischen Legitimationsstrang vom Bundestag zur Bundesregierung verläuft, nicht hingegen umgekehrt von der Regierung zum Parlament.
15 Vor diesem Hintergrund stellt bereits die systematische Sammlung und Auswertung öffentlich zugänglicher - ohne den Einsatz von Methoden der heimlichen Beschaffung erlangter - Informationen über den Abgeordneten einen Eingriff in das freie Mandat dar. Das gilt auch dann, wenn die gesammelten Informationen nicht digitalisiert sind. Ferner beeinträchtigt die Sammlung von Informationen über einen Abgeordneten dessen freie Mandatsausübung, weil die hiermit verbundene Stigmatisierung Wählerinnen und Wähler von einer Kontaktaufnahme und von eigener inhaltlicher Auseinandersetzung mit seinen politischen Tätigkeiten und denen seiner Partei und Fraktion abhalten und damit die von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte Kommunikationsbeziehung mit den Bürgern nachteilig beeinflussen kann. Die bloße Möglichkeit einer staatlichen Registrierung von Kontakten kann eine abschreckende Wirkung entfalten und schon im Vorfeld zu Kommunikationsstörungen und Verhaltensanpassungen führen. In dieser Möglichkeit eines Abschreckungseffekts liegt ein Eingriff in das Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Beobachtung eines Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes stellt schließlich auch deshalb einen Eingriff in die Freiheit des Abgeordnetenmandats dar, weil damit der im Grundgesetz vorgesehene typische Kontrollzusammenhang zwischen Legislative und Exekutive umgekehrt wird. Darin liegt eine Beeinträchtigung des normativen Status des Abgeordneten, ohne dass es dabei auf eine faktische Beeinflussung der parlamentarischen Willens- und Entscheidungsbildung ankäme.
16 Der in der Beobachtung eines Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes und der damit verbundenen Sammlung und Speicherung von Daten liegende Eingriff in das freie Mandat kann im Einzelfall im Interesse des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerechtfertigt sein, unterliegt dabei jedoch (u. a.) strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass nur das Notwendige zum Schutz eines von der Verfassung anerkannten Rechtsgutes - hier: der freiheitlichen demokratischen Grundordnung - im Gesetz vorgesehen und im Einzelfall angeordnet werden darf. Die Einschränkung des freien Mandats darf nicht weiter reichen, als dies erforderlich ist. Zudem darf die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen. Danach ist die Beobachtung eines Abgeordneten durch Verfassungsschutzbehörden nur dann zulässig, wenn sie erforderlich ist und die Abwägung im Einzelfall ergibt, dass dem Interesse am Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Vorrang vor den Rechten des betroffenen Abgeordneten gebührt. Erweist sich, dass die weitere Beobachtung des Abgeordneten zum Schutz der freiheitlichen Ordnung nicht notwendig ist, gebietet es der Grundsatz der Erforderlichkeit, die Beobachtung umgehend zu beenden.
17 b) Die aus dem freien Mandat abgeleiteten Gesichtspunkte, die die Beobachtung von Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes begrenzen, verlangen auch Beachtung, wenn die zuständige oberste Aufsichtsbehörde in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren, in dem der Abgeordnete Auskunft über die vom Verfassungsschutz zu ihm gespeicherten personenbezogenen Daten begehrt, die Vorlage der entsprechenden Akten oder elektronischen Dokumente gemäß § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO verweigern will.
18 aa) Der im Hauptsacheverfahren geltend gemachte Auskunftsanspruch ist ein wesentliches Instrument dafür, dass die betroffene Person Kenntnis von der Tatsache ihrer Beobachtung durch den Verfassungsschutz sowie - über die zu ihrer Person gespeicherten Daten - von Art und Umfang dieser Beobachtung erlangen kann, um daran anknüpfend deren Rechtmäßigkeit einschätzen und ggf. weitergehende Ansprüche, etwa auf Berichtigung oder Löschung (§ 14 LVSG-BW), verfolgen zu können. Dieses allgemeine Interesse, das jedem derartigen Auskunftsbegehren zugrunde liegt, wird im Falle der Beobachtung von Abgeordneten zusätzlich verfassungsrechtlich verstärkt durch die Gewährleistung des freien Mandats (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sowie hier Art. 27 Abs. 3 Satz 2 LV-BW). Dies gilt nicht nur für den materiellen Auskunftsanspruch (hier aus § 13 LVSG-BW), sondern auch für die Entscheidung der Aufsichtsbehörde, im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die vom Hauptsachegericht für entscheidungserheblich erachteten Akten und Dokumente offenzulegen oder aber deren Vorlage ganz oder teilweise zu verweigern.
19 bb) Die Sperrerklärung muss deshalb - zum einen - in Bezug auf den jeweils herangezogenen Geheimhaltungsgrund des § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO erkennen lassen, dass gesehen und berücksichtigt wurde, dass es sich bei dem Betroffenen um einen Abgeordneten handelt, dessen Auskunftsbegehren auch die Gewährleistung seines freien Mandats tangiert. So muss, wenn etwa die Notwendigkeit einer Geheimhaltung von Akten mit Nachteilen für das Wohl des Bundes oder eines Landes begründet wird (§ 99 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 VwGO), gegenläufig auch in Rechnung gestellt werden, dass sich die Vorenthaltung von Akten ihrerseits störend auf die Ausübung des freien Mandats und auf den demokratischen politischen Prozess, deren Schutz ebenfalls dem Staatswohl dient, auswirken kann.
20 cc) Zum anderen muss die Bedeutung der Gewährleistung eines freien Mandats ihren Niederschlag in der Ausübung des spezifisch prozessualen Geheimhaltungsermessens, das § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO der Aufsichtsbehörde einräumt, finden. Auch dann, wenn Geheimhaltungsgründe vorliegen, "kann" gemäß § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO die Erteilung von Auskünften oder die Vorlage von Akten verweigert werden. Selbst wenn der Ausgangsbehörde bei dem in der Hauptsache umstrittenen Informationsbegehren kein Ermessen zusteht, besitzt die oberste Aufsichtsbehörde bei der Entscheidung über die prozessuale Freigabe von Dokumenten oder Akten einen Ermessensspielraum. Darin liegt die Besonderheit der prozessualen Ermessensausübung nach § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 28. Juni 2023 - 20 F 2.23 - juris Rn. 11 m. w. N.). In die Abwägung einzustellen sind hier deshalb auch das (persönliche und öffentliche) Interesse an der Ausübung des freien Mandats und damit Gesichtspunkte wie die einer von staatlicher Beeinflussung freie Kommunikationsbeziehung zwischen dem Abgeordneten und den Wählerinnen und Wählern und der Freiheit der Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung und Kontrolle (siehe oben II.2.a).
21 c) Diesen Anforderungen genügt die Sperrerklärung vom 15. Februar 2021, soweit sie hier im Streit steht, nicht.
22 aa) Der Beigeladene hat in der die Nummern 1.16 und 1.17 betreffenden Passage der Sperrerklärung (Seite 15 letzter Absatz/Seite 16 bis Mitte) die Darlegung von Geheimhaltungsgründen und die Ausübung des ihm durch § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO eröffneten prozessualen Ermessens in einer einheitlichen "Einzelfallabwägung" zusammengefasst. Diese "Einzelfallabwägung" besteht aus weitgehend schematischen und abstrakten Erwägungen, die an keiner Stelle den Abgeordnetenstatus der Klägerin in den Blick nehmen und die vorstehend dargelegten Gesichtspunkte der Gewährleistung des freien Mandats berücksichtigen. Die Sperrerklärung ist deshalb bereits aus diesem Grund in dem hier gegenständlichen Umfang rechtswidrig.
23 bb) Im Einzelnen ist Folgendes anzumerken:
24 (1) Soweit die Schwärzung personenbezogener Daten Dritter damit begründet wird, dass diese ihrem Wesen nach geheim zu halten sind (§ 99 Abs. 1 Satz 3 Alt. 3 VwGO), weil bei ihrer Preisgabe das Persönlichkeitsrecht der betreffenden Personen verletzt würde, entspricht dies zwar im Ausgangspunkt der Rechtsprechung des Senats (vgl. z. B. BVerwG, Beschlüsse vom 19. April 2010 - 20 F 13.09 - BVerwGE 136, 345 Rn. 22 und vom 28. Juni 2023 - 20 F 2.23 - juris Rn. 23).
25 Allerdings greift der Schutz persönlicher Daten nicht unterschiedslos, sondern nur soweit, als diese Daten tatsächlich (noch) schutzwürdig sind. Daran fehlt es namentlich dann, wenn es sich um Personen der Zeitgeschichte handelt, die in den Unterlagen nur in ohnehin bereits bekannten Zusammenhängen angeführt werden, oder wenn es sich um persönliche Daten handelt, die in allgemein zugänglichen Quellen erwähnt worden sind, und diese Quellen, etwa Zeitungsberichte oder sonstige Publikationen, in den Unterlagen lediglich wiedergegeben sind, ohne dass dadurch weiterführende Rückschlüsse ermöglicht werden (BVerwG, Beschluss vom 19. April 2010 - 20 F 13.09 - BVerwGE 136, 345 Rn. 22). So verhält es sich bei der unter Nr. 1.17 genannten Person.
26 Unabhängig davon begründen grundrechtliche Schutzansprüche Dritter "ihrem Wesen nach" einen Geheimhaltungsgrund im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 3 Alt. 3 VwGO nur, sofern kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse vorliegt, das ausnahmsweise eine Offenlegung zu rechtfertigen vermag (BVerwG, Beschluss vom 23. Juni 2011 - 20 F 21.10 - NVwZ 2012, 112 Rn. 14). Die Rechtsprechung des Senats zur wesensmäßigen Geheimhaltungsbedürftigkeit personenbezogener Daten bezieht sich im Kern auf unbeteiligte Personen oder auf solche, bei denen es als Informanten oder Behördenmitarbeiter um ihre Sicherheit oder beruflich gebotene Anonymität geht (vgl. z. B. BVerwG, Beschluss vom 1. August 2007 - 20 F 10.06 - juris Rn. 9). Die beiden in Nr. 16 und Nr. 17 genannten Personen stehen hingegen der Klägerin in ihrem Tätigkeitsfeld als Parteipolitikerin und Mandatsträgerin nahe und sind ihr in dieser Funktion wohlbekannt. Die Weigerung, deren Namen offenzulegen, kann nach bisherigem Erkenntnisstand nicht mit einem überwiegenden Geheimhaltungsinteresse dieser Personen begründet werden. Sie dient wohl weniger der Wahrung der Persönlichkeitsrechte dieser Personen als vielmehr der Geheimhaltung ihrer Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Dies betrifft indes nicht Vorgänge, die ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen (§ 99 Abs. 1 Satz 3 Alt. 3 VwGO), sondern den andersgearteten Geheimhaltungsgrund möglicher Nachteile für das Wohl des Bundes oder eines Landes (§ 99 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 VwGO).
27 (2) Auch zu dem Geheimhaltungsgrund möglicher Nachteile für das Wohl des Bundes oder eines Landes (§ 99 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 VwGO) sind die Ausführungen des Sperrvermerks allgemein gehalten und schematisch. So werden etwa für das Resümee, dass bei einer Offenlegung "Nachteile für die Funktionsfähigkeit des Bundes oder eines Landes sowie die innere und äußere Sicherheit" drohten, keine einzelfallbezogenen Anhaltspunkte für eine derartig weitreichende Gefährdungslage gegeben. Dies jedoch wäre umso mehr angezeigt, als die Beobachtung eines Abgeordneten durch Verfassungsschutzbehörden nur dann zulässig ist, wenn sie erforderlich ist und die Abwägung im Einzelfall ergibt, dass dem Interesse am Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Vorrang vor den Rechten des betroffenen Abgeordneten gebührt (BVerfG, Beschluss vom 17. September 2013 - 2 BvE 6/08 u. a. - BVerfGE 134, 141 Rn. 120).
28 Ebenso fehlt es an der gebotenen Berücksichtigung der Folgen für die Ausübung des freien Mandats. Wenn etwa ausgeführt wird, dass sich bei Offenlegung die Beobachtungsobjekte auf die Beobachtung durch den Verfassungsschutz einstellen könnten, so bleibt die umgekehrte Folge außer Betracht, dass die bloße Möglichkeit einer staatlichen Registrierung von Kontakten eine abschreckende Wirkung entfalten und schon im Vorfeld zu Kommunikationsstörungen und Verhaltensanpassungen führen kann, was bereits als solches einen Eingriff in das Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG darstellt (BVerfG, Beschluss vom 17. September 2013 - 2 BvE 6/08 u. a. - BVerfGE 134, 141 Rn. 108). Eine Rechtfertigung der Geheimhaltung mit Gründen des Staatswohls setzt die Berücksichtigung beider Aspekte voraus.
29 (3) Schließlich hat die Gewährleistung des freien Mandats der Klägerin keinen Eingang in die Ermessensausübung nach § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO gefunden. Der Beigeladene hat zwar erkannt, dass bei der Entscheidung über die prozessuale Freigabe von Akten neben dem privaten Interesse an effektivem Rechtsschutz und dem - je nach Fallkonstellation - öffentlichen oder privaten Interesse am Geheimnisschutz auch das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung abzuwägen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Juni 2023 - 20 F 2.23 - juris Rn. 11). Er hat jedoch nicht berücksichtigt, dass in diese Abwägung als weiterer Faktor das freie Mandat der Klägerin einzustellen ist. Gerade in Fällen, in denen sich - wie hier - das Auskunftsbegehren auf die Beobachtung eines parlamentarischen Mandatsträgers bezieht, kommt die eigenständige Bedeutung des Ermessens nach § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO zum Tragen, weil die verfassungsrechtliche Gewährleistung des freien Mandats Argumente dafür liefern kann, auch dann, wenn grundsätzlich Geheimhaltungsgründe angenommen werden, Akten oder Teile davon gleichwohl im Interesse der ungestörten demokratischen politischen Auseinandersetzung offenzulegen. Damit ist kein bestimmtes Ergebnis der Abwägung vorgezeichnet. Jedoch muss die in die Sperrerklärung dokumentierte Ermessensausübung nachvollziehbar erkennen lassen, dass im Rahmen der Entscheidung über die Aktenfreigabe die Bedeutung der Aktenkenntnis für die parlamentarische-politische Tätigkeit der Klägerin erkannt und erwogen wurde. Das ist hier nicht geschehen.
30 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.