Beschluss vom 27.03.2023 -
BVerwG 1 B 74.22ECLI:DE:BVerwG:2023:270323B1B74.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 27.03.2023 - 1 B 74.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:270323B1B74.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 74.22

  • VG Aachen - 20.12.2019 - AZ: 1 K 3269/19.A
  • OVG Münster - 19.09.2022 - AZ: 11 A 200/20.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. März 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. September 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die allein auf einen Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

2 1. Soweit die Beschwerde sinngemäß eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) dadurch rügt, dass das Berufungsgericht ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist weder hinreichend im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt noch ersichtlich, dass die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens nach § 130a VwGO hier verfahrensfehlerhaft gewesen ist.

3 Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören (§ 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Ist das sich auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung beziehende Einstimmigkeitserfordernis erfüllt, steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, im Ermessen des Gerichts. Die Grenzen des dem Berufungsgericht eingeräumten Ermessens sind weit gezogen (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 11 m. w. N.). Mit dem Grad der Schwierigkeit der Rechtssache wächst auch das Gewicht der Gründe, die gegen die Anwendung des § 130a VwGO und für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sprechen. Die Grenzen von § 130a Satz 1 VwGO sind erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 12 m. w. N.).

4 a) Unbegründet ist zunächst die Rüge, das Berufungsgericht habe dem in § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO geregelten Anhörungsgebot nicht hinreichend Rechnung getragen, weil es keine erneute Anhörung durchgeführt habe, nachdem der Kläger mit Schriftsatz vom 13. September 2022 mehrere Beweisanträge angekündigt habe.

5 Die Rüge einer Verletzung der Pflicht zur Anhörung nach § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO hat immer dann Erfolg, wenn eine Anhörung zu dem beabsichtigten vereinfachten Berufungsverfahren gänzlich unterblieben ist. In einem solchen Fall ist die Entscheidung des Berufungsgerichts gemäß § 138 Nr. 3 VwGO stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen. Hat das Berufungsgericht hingegen - wie hier mit Verfügung vom 22. August 2022 - eine Anhörung durchgeführt, so bedarf es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einer erneuten Anhörung nur dann, wenn sich unter Zugrundelegung der insoweit maßgeblichen Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts die prozessuale Lage wesentlich verändert hat. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein Beteiligter nach der Anhörung einen Beweisantrag stellt, der - würde eine mündliche Verhandlung durchgeführt - gemäß § 86 Abs. 2 VwGO beschieden werden müsste. In einem solchen Fall wird das Gericht seiner Anhörungspflicht in der Regel nur dadurch gerecht, dass es den Beteiligten durch eine erneute Anhörung auf die unverändert beabsichtigte Entscheidung durch Beschluss und damit darauf hinweist, dass es dem Beweisantrag oder den Beweisanträgen nicht nachgehen werde. Der Zweck des in dem Verfahren nach § 130a VwGO nicht anzuwendenden, jedoch seinem Sinne nach zu wahrenden § 86 Abs. 2 VwGO besteht darin, einerseits das Gericht zu veranlassen, sich vor Erlass der Sachentscheidung über die Entscheidungserheblichkeit des Beweisantrags schlüssig zu werden, und andererseits die Beteiligten auf die durch die Ablehnung des Beweisantrags entstandene prozessuale Lage hinzuweisen. Dies wird durch die erneute Anhörung erreicht; durch sie wird dem Beweisführer vor allem die Einschätzung ermöglicht, wie das Gericht seinen nach der ersten Anhörung gestellten Beweisantrag bewertet (BVerwG, Beschluss vom 2. März 2010 - 6 B 72.09 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 80 Rn. 7 m. w. N.).

6 Von einer erneuten Anhörung kann das Berufungsgericht jedoch verfahrensfehlerfrei absehen, wenn das Vorbringen oder der Beweisantrag auf der Basis der materiellrechtlichen Beurteilung des Oberverwaltungsgerichts unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt für die Entscheidung erheblich ist. Der Anspruch auf rechtliches Gehör bezieht sich nur auf entscheidungserhebliches Vorbringen; er verpflichtet das Gericht nicht, seine Sachentscheidung zurückzustellen und Ausführungen zu erörtern, auf die es aus seiner Sicht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommt (BVerwG, Beschlüsse vom 15. Mai 2008 - 2 B 77.07 - NVwZ 2008, 1025 Rn. 16 f. m. w. N. und vom 2. März 2010 - 6 B 72.09 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 80 Rn. 8 m. w. N.).

7 Einer Vorabentscheidung über den gestellten Beweisantrag oder der vorherigen Mitteilung der Gründe für die Nichtberücksichtigung eines Beweismittels bedarf es im Rahmen des Verfahrens nach § 130a VwGO nicht. Allerdings muss aus den Entscheidungsgründen des Beschlusses ersichtlich sein, dass das Berufungsgericht die Ausführungen des Beteiligten zur Kenntnis genommen und jeden einzelnen Beweisantrag vorher auf seine Rechtserheblichkeit geprüft hat. Im Gegenzug muss die von dem Berufungsführer erhobene Rüge einer Gehörsverletzung wegen Unterlassens einer erneuten Anhörung erkennen lassen, welcher erhebliche Vortrag noch angebracht worden wäre und durch die unterbliebene Anhörung abgeschnitten worden sein soll (BVerwG, Beschluss vom 2. März 2010 - 6 B 72.09 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 80 Rn. 8 m. w. N.).

8 Gemessen hieran war eine erneute Anhörung trotz der von dem Kläger vorgebrachten Beweisangebote entbehrlich. Denn die im Anschluss an sein früheres Vorbringen unter Beweis gestellten Umstände, ihm drohe als Folgeantragsteller bei einer Rückführung nach Rumänien eine bis zu 18 Monate dauernde Haft und er könne zudem keine materiellen Leistungen erhalten, waren nach Auffassung des Berufungsgerichts - in der gebotenen Auseinandersetzung mit diesen in den Gründen des angefochtenen Beschlusses (BA S. 19 ff.) – für die Beurteilung einer ihm drohenden Gefahr, bei einer Rückkehr nach Rumänien in eine Situation extremer materieller Not zu geraten, nicht entscheidungserheblich. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts besteht keine Gefahr, dass der Kläger als Folgeantragsteller behandelt würde und damit von staatlichen Leistungen ausgeschlossen wäre. Vielmehr sei nach der Rücküberstellung nach Rumänien zu erwarten, dass das Asylverfahren des Klägers fortgesetzt und er staatliche Hilfen erhalten werde. Lagen den Beweisangeboten nach den Feststellungen des Berufungsgerichts damit andere Fallkonstellationen als diejenige des Klägers zugrunde, durfte das Berufungsgericht davon ausgehen, dass den Beweisangeboten mangels Relevanz nicht weiter nachzugehen ist.

9 Gleiches gilt auch für die weiteren, in den Gründen des angefochtenen Beschlusses ebenfalls ausführlich behandelten (BA S. 20 f.) Beweisanregungen zur Inhaftierung von Minderjährigen, zu den Haftbedingungen sowie zur Praxis der Abschiebungen oder illegalen "Push-backs" nach Serbien. Denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts droht dem offensichtlich nicht minderjährigen Kläger als Dublin-Rückkehrer, der nach Rumänien und nicht von Rumänien in einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden soll, keine Inhaftierung. Zudem beträfen die Fälle von Abschiebungen aus der Haft nach Serbien insbesondere Personen, die unmittelbar an der Grenze aufgegriffen und deshalb inhaftiert würden, nicht aber Dublin-Rückkehrer, deren Asylverfahren in Rumänien nicht bestandskräftig erfolglos abgeschlossen sei.

10 Im Übrigen hat die Beschwerde auch nicht dargetan, dass die im Schriftsatz vom 13. September 2022 im Anschluss an früheres Vorbringen angeregten Beweismittel entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts doch entscheidungserheblich seien. Der pauschale und unsubstantiierte Hinweis, die "gestellten Beweisanträge waren jedoch nicht relevanzlos, sondern vielmehr entscheidungserheblich" reicht hierfür ebenso wenig aus wie eine kurze Wiederholung des bisherigen Vorbringens, dem Kläger drohe Abschiebungshaft und - als Folgeantragsteller - ein völliger Leistungsausschluss, ohne sich auch nur ansatzweise mit der gegenteiligen tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts auseinanderzusetzen.

11 Für das Berufungsgericht bestand daher keine Veranlassung, von einer Entscheidung nach § 130a VwGO abzusehen. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach dann keine mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 [ECLI:​EU:​C:​2017:​591], Moussa Sacko - Rn. 47 m. w. N.). Für die Berufungsinstanz gelten jedenfalls keine strengeren Maßstäbe (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 29. Oktober 1991 - Nr. 22/1990/213/275, Helmers - NJW 1992, 1813).

12 b) Ebenso wenig gebot Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Norm findet auf den vorliegenden Rechtsstreit keine direkte Anwendung (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 15 m. w. N.). Davon unberührt bleibt, dass die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Anforderungen konventionskonformer Anwendung im Rahmen der Ermessensausübung nach § 130a VwGO vom Berufungsgericht zu berücksichtigen sind, was hier geschehen ist (BA S. 5).

13 c) Das Ermessen des Berufungsgerichts, im vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130a VwGO zu entscheiden, war auch nicht dadurch eingeschränkt, dass bereits die Entscheidung des Verwaltungsgerichts mit Zustimmung der Beteiligten (und damit ohne den Beteiligten die Möglichkeit des persönlichen Vortrages zu nehmen) ohne mündliche Verhandlung ergangen ist.

14 Zwar verlangt die bei der Ermessensausübung zu beachtende Regelung des Art. 6 Abs. 1 EMRK nach der ständigen, auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Beteiligten im gerichtlichen Verfahren mindestens einmal die Gelegenheit erhalten, zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen. Wenn die Beteiligten in der ersten Instanz Gelegenheit zu einer mündlichen Verhandlung hatten und sie - wie hier - freiwillig und ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO), steht dem Berufungsgericht die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss nach § 130a VwGO aber grundsätzlich offen. Auf die Gründe, aus denen ein Beteiligter von der ihm in erster Instanz jedenfalls eröffneten Möglichkeit, in einer mündlichen Verhandlung persönlich zur Sache vorzutragen, keinen Gebrauch gemacht hat, kommt es dabei nicht an (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 19 m. w. N.).

15 2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

16 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.