Beschluss vom 17.01.2022 -
BVerwG 1 B 95.21ECLI:DE:BVerwG:2022:170122B1B95.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 17.01.2022 - 1 B 95.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:170122B1B95.21.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 95.21

  • VG Osnabrück - 20.06.2017 - AZ: VG 7 A 219/16
  • OVG Lüneburg - 03.11.2021 - AZ: OVG 2 LB 139/21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Januar 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.
  2. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 3. November 2021 wird verworfen.
  3. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I

1 Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht ist abzulehnen, weil die Rechtsverfolgung - wie sich aus den nachstehenden Gründen ergibt - keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Unabhängig davon fehlt es an der Vorlage aktueller Nachweise zu den wirtschaftlichen Verhältnissen.

II

2 Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

3 1. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

4 1.1 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m.w.N.).

5 1.2. Nach diesen Grundsätzen ist die Revision nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfragen zuzulassen,
"Welche Anforderungen sind an die Annahme einer 'starken Vermutung' [vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2020 - C-238/19] für eine Verknüpfung zwischen der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) genannten Voraussetzungen mit einem der in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 3 i.V.m. § 3b AsylG) genannten Verfolgungsgründe - sowie deren Widerlegung - zu stellen und welche Bedeutung kommt einer solchen 'starken Vermutung' im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zu?
bzw.
Ist im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH vom 19.11.2020 - C-238/29 - mit einer starken Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes im Sinne des Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU an einen der Verfolgungsgründe aus Art. 10 RL 2011/95/EU anknüpfen entweder hinsichtlich der Überzeugungsbildung gem. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO oder hinsichtlich der Verteilung der Beweislast im Bereich des Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ein von der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG schutzorientiert ein abweichender Maßstab dahingehend anzuwenden, dass eine Versagung der Flüchtlingseigenschaft gegen diese 'starke Vermutung' nur möglich ist, wenn diese nach Überzeugung des Tatrichters vollständig widerlegt ist, verbleibende Zweifel also zur Schutzgewährung führen ('benefit of doubt') bzw. die Last der Nichterweislichkeit oder eines Nonliquet der Beklagten zufällt und ist dieser für den Schutzsuchenden günstigere Maßstab neben der Feststellung der Konnexität auch bei der Feststellung der Gefahr der Verfolgungshandlung und des Bestehens des Verfolgungsgrundes anzulegen?",
weil deren Entscheidungserheblichkeit schon nicht dargelegt ist (§ 133 Abs. 3 VwGO).

6 Das Berufungsgericht hat - wie sich auch aus der Bezugnahme auf sein Urteil vom 22. April 2021 (- 2 LB 408/20 -) erschließt (BA S. 6, 7) - zwar offengelassen, ob Wehrdienstentziehern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG drohe, weil es an der gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG fehle (OVG Lüneburg, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 408/20 - S. 21), weil nach der aktuellen Erkenntnislage eine Verfolgung wegen einer mit Blick auf die Wehrdienstentziehung zugeschriebenen oppositionellen politischen Haltung (§ 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG) (ebd. S. 21 bis 27) oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) (Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 408/20 - S. 27 bis 29) nicht zu besorgen sei; auch liege eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Wehrdienstentziehung unter Berücksichtigung des in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG aufgenommenen Regelbeispiels einer Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG nicht vor, weil nach dem aktuellen Stand des Konflikt- bzw. Kriegsgeschehens die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG im Falle des Wehr- bzw. Reservedienstes in der syrischen Armee nicht (mehr) als erfüllt anzusehen seien (Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 408/20 -, S. 31 bis 34). Mit dieser, die Entscheidung insoweit selbständig tragenden tatrichterlichen Bewertung setzt sich die Beschwerde nicht auseinander. Die aufgeworfene Grundsatzfrage setzt indes das - vom Berufungsgericht gerade verneinte - Vorliegen einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG als gegeben voraus und bezieht sich allein auf die weitere, die Entscheidung ebenfalls selbständig tragende Erwägung ("unabhängig von den vorstehenden Ausführungen ..."), dass die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG auch deshalb nicht vorlägen, weil es an der erforderlichen Verknüpfung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund fehle (ebd. S. 34).

7 Unabhängig davon fehlt es auch insoweit an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit, weil das Berufungsgericht die (geänderten) tatsächlichen Verhältnisse (im Ergebnis abweichend von der Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 - 3 B 109.18 -) dahin gewürdigt hat, dass die vom Gerichtshof der Europäischen Union postulierte "starke Vermutung" eines Konnexes von (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund als widerlegt anzusehen sei. Keine andere Beurteilung rechtfertigt daher, dass der Senat mit Beschluss vom 20. Juli 2021 - 1 B 26.21 (1 C 21.21 ) - gegen das vom Berufungsgericht benannte Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zur Klärung der Frage zugelassen hat,
"welche Anforderungen an die Annahme einer 'starken Vermutung' (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - RN. 57) für eine Verknüpfung zwischen der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) genannten Voraussetzungen mit einem der in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 3 i.V.m. § 3b AsylG) genannten Verfolgungsgründe - sowie deren Widerlegung - zu stellen sind und welche Bedeutung einer solchen 'starken Vermutung' im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zukommt."

8 Denn insoweit sind hier nicht Fragen des rechtlichen Maßstabes, sondern der tatrichterlichen Bewertung betroffen.

9 2. Ein Verfahrensfehler, der zur Zulassung der Revision führte (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), ist ebenfalls nicht hinreichend dargelegt (§ 133 Abs. 3 VwGO).

10 2.1 Dies gilt zunächst, soweit die Beschwerde einen Verfahrensmangel und zugleich eine Gehörsverletzung darin sieht, dass das Berufungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Beschlussverfahren gemäß § 130a VwGO entschieden habe.

11 2.1.1 Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören (§ 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Ist das sich auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung beziehende Einstimmigkeitserfordernis (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Januar 1998 - 3 B 1.98 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 19 S. 11 f.) erfüllt, steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, im Ermessen des Gerichts. Die Grenzen des dem Berufungsgericht eingeräumten Ermessens sind weit gezogen. Das Revisionsgericht kann die Entscheidung für die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens nur darauf überprüfen, ob das Oberverwaltungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 12. März 1999 - 4 B 112.98 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 35 S. 5 m.w.N. und vom 25. September 2003 - 4 B 68.03 - Buchholz 140 Art. 6 MRK Nr. 9 S. 16). Ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung ist seitens des Revisionsgerichts nur zu beanstanden, wenn es auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung des Berufungsgerichts beruht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. Februar 1999 - 4 B 4.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 33 S. 2 m.w.N.) oder wenn im konkreten Fall Art. 6 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) beziehungsweise Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gebieten.

12 Auch wenn § 130a VwGO keine ausdrücklichen Einschränkungen enthält, hat das Berufungsgericht bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen, dass sich die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung im System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes nach der Ausgestaltung des Prozessrechts als gesetzlicher Regelfall und Kernstück auch des Berufungsverfahrens erweist (§ 125 Abs. 1 i.V.m. § 101 Abs. 1 VwGO). Bei der Ermessensentscheidung gemäß § 130a Satz 1 VwGO dürfen die Funktionen der mündlichen Verhandlung und ihre daraus erwachsende Bedeutung für den Rechtsschutz nicht aus dem Blick geraten. Das Gebot, im Rahmen einer mündlichen Verhandlung die Rechtssache auch im Interesse der Ergebnisrichtigkeit mit den Beteiligten zu erörtern, wird umso stärker, je schwieriger die vom Gericht zu treffende Entscheidung ist. Mit dem Grad der Schwierigkeit der Rechtssache wächst daher zugleich auch das Gewicht der Gründe, die gegen die Anwendung des § 130a VwGO und für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sprechen (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. März 2000 - 9 C 39.99 - BVerwGE 111, 69 <74>, vom 30. Juni 2004 - 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <214> und Beschluss vom 20. Oktober 2011 - 2 B 63.11 - juris Rn. 6). Die Grenzen von § 130a Satz 1 VwGO sind erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist (BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004 - 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <213>); abzustellen ist insoweit auf die Gesamtumstände des Einzelfalles (BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 Rn. 24 und Beschluss vom 24. April 2019 - 1 B 24.19 - juris Rn. 22).

13 2.1.2 Daran gemessen ist nicht dargelegt, dass die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens nach § 130a VwGO hier ermessensfehlerhaft gewesen sei.

14 a) Das Berufungsgericht hat die Beteiligten zu seiner Absicht, durch Beschluss nach § 130a VwGO zu Lasten des Klägers zu entscheiden, mit Verfügung vom 11. Oktober 2021 vorab gehört. Dabei hat es auf seine im April 2021 ergangenen Urteile Bezug genommen, nach denen syrischen Staatsangehörigen, die sich als Rekruten oder Reservisten durch Flucht ins Ausland dem Wehrdienst entzogen haben, nicht aufgrund einer deshalb unterstellten oppositionellen Gesinnung politische Verfolgung durch den syrischen Staat drohe und ebensowenig mit der Ableistung des Wehrdienstes in der syrischen Armee für nach Syrien zurückkehrende Wehrpflichtige in der Regel eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung an Kriegsverbrechen verbunden sei. Das Gericht hat ausdrücklich mitgeteilt, es sei beabsichtigt, dem Berufungsbegehren der Beklagten zu entsprechen. Der Kläger hat sich innerhalb der gesetzten Äußerungsfrist zu einer Entscheidung durch Beschluss nach § 130a VwGO nicht geäußert und insbesondere weder konkret neu zur Sache vorgetragen noch einen konkreten Beweisantrag zu einer bestimmten Beweistatsache gestellt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Oktober 2007 - 5 B 157.07 - juris). Damit bestand für das Berufungsgericht kein Anlass, von einer Entscheidung nach § 130a VwGO abzusehen oder die Ermessensentscheidung über das Absehen zu ergänzen. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), wonach dann keine neue mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 [ECLI:​EU:​C:​2017:​591], Moussa Sacko - Rn. 47 m.w.N.). Für die Berufungsinstanz gelten jedenfalls keine strengeren Maßstäbe (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 29. Oktober 1991 - Nr. 22/1990/213/275, Helmers - NJW 1992, 1813).

15 b) Ebenso wenig gebot Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK vorliegend die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Norm findet auf den vorliegenden Rechtsstreit keine direkte Anwendung. Dem Wortlaut nach gilt Art. 6 Abs. 1 EMRK nur für Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen und für strafrechtliche Anklagen. Auch wenn der Anwendungsbereich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über das nationale Wortverständnis hinausgeht, werden jedenfalls Verfahren aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts, wozu auch das Asylrecht zählt, weiterhin nicht davon erfasst (BVerwG, Urteile vom 21. März 2000 - 9 C 39.99 - BVerwGE 111, 69 <74>, vom 14. März 2002 - 1 C 15.01 - BVerwGE 116, 123 <125> und vom 27. Oktober 2015 - 1 C 32.14 - BVerwGE 153, 162 Rn. 23; Beschluss vom 16. Juni 1999 - 9 B 1084.98 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 40; jeweils m.w.N.). Davon unberührt bleibt, dass die vom EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Anforderungen bei konventionskonformer Anwendung im Rahmen der Ermessensausübung nach § 130a VwGO vom Berufungsgericht zu berücksichtigen sind.

16 c) Das nach nationalem Recht in konventionskonformer Auslegung eröffnete Ermessen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, war hier auch nicht mit Blick auf Unionsrecht eingeschränkt oder ausgeschlossen. Weder Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht gegen die einen Antrag auf internationalen Schutz ablehnende Entscheidung vorsieht, noch eine andere Bestimmung der Richtlinie sehen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem mit dem Rechtsbehelf befassten Gericht vor (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 - Rn. 28). Es besteht eine Pflicht der Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist. Diese Pflicht entspricht dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) verankerten Grundsatz, wonach jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, so dass der Begriff des "wirksamen Rechtsbehelfs" im Sinne des Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU im Einklang mit Art. 47 GRC zu bestimmen ist (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 - Rn. 30 f. m.w.N.). Art. 47 GRC ist wiederum im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK auszulegen, da Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC den Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK entsprechen (Art. 52 Abs. 3 GRC). Insoweit hat der Gerichtshof der Europäischen Union (Gerichtshof) unter Bezugnahme auf den EGMR bereits festgestellt, dass sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK keine absolute Verpflichtung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergibt und eine solche Verpflichtung auch nicht aus Art. 47 Abs. 2 oder einer anderen Bestimmung der GRC folgt (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 - Rn. 40 m.w.N.). Jedenfalls dann, wenn das Gericht der Auffassung ist, dass es seiner Verpflichtung zur umfassenden ex-nunc-Prüfung des Rechtsbehelfs nach Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU allein auf der Grundlage des Akteninhalts einschließlich der Niederschrift oder des Wortprotokolls der persönlichen Anhörung des Antragstellers nachkommen kann, kann es die Entscheidung treffen, den Antragsteller im Rahmen des Rechtsbehelfs nicht anzuhören und von einer mündlichen Verhandlung abzusehen (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 - Rn. 44).

17 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat die Beschwerde keine Gründe aufgezeigt, wonach das Berufungsgericht unter unionsrechtlichen Gesichtspunkten verpflichtet gewesen wäre, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

18 d) Das Ermessen des Berufungsgerichts, im vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130a VwGO zu entscheiden, war auch nicht dadurch eingeschränkt, dass bereits die Entscheidung des Verwaltungsgerichts mit Zustimmung der Beteiligten (und damit ohne den Beteiligten die Möglichkeit des persönlichen Vortrages zu nehmen) ohne mündliche Verhandlung ergangen ist.

19 Zwar verlangt die bei der Ermessensausübung zu beachtende Regelung des Art. 6 Abs. 1 EMRK nach der ständigen, auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Beteiligten im gerichtlichen Verfahren mindestens einmal die Gelegenheit erhalten, zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2019 - 7 B 25.18 - NVwZ 2019, 1854 Rn. 10). Wenn die Beteiligten in der ersten Instanz Gelegenheit zu einer mündlichen Verhandlung hatten und sie freiwillig und ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO), steht dem Berufungsgericht die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss nach § 130a VwGO aber grundsätzlich offen (BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1998 - 2 C 4.97 - Buchholz 310 § 161 VwGO Nr. 113; Beschlüsse vom 12. September 2018 - 1 B 50.18 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 96 Rn. 24 und vom 24. April 2019 - 1 B 24.19 - juris Rn. 30). Auf die Gründe, aus denen ein Beteiligter von der ihm in erster Instanz jedenfalls eröffneten Möglichkeit, in einer mündlichen Verhandlung persönlich zur Sache vorzutragen, keinen Gebrauch gemacht hat, kommt es dabei nicht an (vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 7. Februar 2007 - 1 B 286.06 - juris Rn. 5, vom 12. September 2018 - 1 B 50.18 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 96 Rn. 24 f. und vom 10. Juli 2019 - 1 B 57.19 - juris Rn. 13 m.w.N.).

20 e) Allein aus dem Umstand, dass aus der Sicht des Klägers eine schwierige Sach- und Tatsachenlage bestehe und weiterhin von einer volatilen und unklaren Tatsachenlage in Syrien auszugehen sei, sodass vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts tagesaktuelle Erkenntnisse heranzuziehen seien, folgt nicht die Notwendigkeit der Durchführung gerade auch einer mündlichen Verhandlung; dass das Berufungsgericht von einer nicht hinreichend aktuellen Erkenntnislage ausgegangen sei, legt die Beschwerde nicht einmal ansatzweise dar.

21 2.2 Die Rüge, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO sei verletzt, "weil die richterliche Überzeugungsbildung einschließlich der Sachverhalts- und Beweiswürdigung in nicht unionsrechtskonformer Weise erfolgt" sei, weil das Berufungsgericht im Gegensatz zum Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Notwendigkeit einer besonderen Behandlung genau dieses Sachverhaltes bei der richterlichen Überzeugungsbildung und Beweiswürdigung vor dem Hintergrund des Unionsrechts verkannt habe, legt schon im Ansatz einen Verfahrensfehler nicht dar. Denn Grundsätze der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind in aller Regel revisionsrechtlich dem sachlichen Recht zuzuordnen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 <272>; Beschluss vom 4. Mai 2020 - 1 B 17.20 - juris Rn. 4). Ein einen Verfahrensfehler begründender Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung ("Überzeugungsgrundsatz") im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann ausnahmsweise insbesondere dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (BVerwG, Beschluss vom 25. April 2018 - 1 B 11.18 - juris Rn. 3 m.w.N.; zum Übergehen eines nach der Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserheblichen Akteninhalts oder zur Annahme aktenwidriger Tatsachen sowie denkgesetzwidriger Schlussfolgerungen s.a. BVerwG, Beschlüsse vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 AufenthG Nr. 58 Rn. 20 und vom 5. Oktober 2021 - 1 B 63.21 - juris Rn. 9). Dies wird mit der Rüge eines falschen Prüfungsmaßstabes und der damit vorgelagerten Rechtsfrage, welcher Maßstab zugrunde zu legen sei, nicht geltend gemacht.

22 Der Gerichtshof hat zudem in der von der Beschwerde herangezogenen Entscheidung nicht mit Bindungswirkung - und unabhängig von einer Veränderung der tatsächlichen Verfolgungslage - für die nationalen Gerichte festgestellt, dass Wehrdienstentzieher bei Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach Art und Schwere eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung zu besorgen haben. Er hat vielmehr die rechtlichen Maßstäbe entfaltet, nach denen die Gefahr von Verfolgungshandlungen sowie die Verknüpfung mit flüchtlingsrechtlich erheblichen Verfolgungsgründen zu beurteilen ist, hat insoweit auch eine starke Vermutung dafür gesehen, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Gründe in Zusammenhang stehe, dann aber betont, dass es Sache der zuständigen nationalen Behörden ist, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen. Eine tatsächliche Bindung der nationalen Behörden und Gerichte an eine bestimmte tatrichterliche Bewertung der Verfolgungssituation enthält dies nicht (BVerwG, Beschluss vom 10. März 2021 - 1 B 2.21 - NVwZ-RR 2021, 687).

23 Unabhängig davon bezöge sich dieser Verfahrensfehler - seine im Übrigen hinreichend substantiierte Bezeichnung unterstellt - ebenfalls auf die Frage eines Zusammenhanges von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund und nicht auf die selbständig tragende Verneinung einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG.

24 3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

25 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.