Beschluss vom 27.06.2017 -
BVerwG 1 C 26.16ECLI:DE:BVerwG:2017:270617B1C26.16.0
Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung von Fragen zur Sekundärmigration von anerkannten Flüchtlingen
Leitsatz:
Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung von Fragen zur Sekundärmigration von anerkannten Flüchtlingen.
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Rechtsquellen
AEUV Art. 267 GR-Charta Art. 4 EMRK Art. 3 AsylG §§ 24, 25, 26a Abs. 1, § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 3, § 31 Abs. 3, §§ 34a, 37 Abs. 1 AufenthG § 25 Abs. 3, § 60 Abs. 1 und 5 GG Art. 16a Abs. 2 VwGO § 86 Abs. 1 VwVfG § 46 Richtlinie 2005/85/EG Art. 12, 25 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU Art. 14, 33 Abs. 2 Buchst. a, Art. 52 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU Art. 20 ff. Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1 Satz 2, Art. 5 Abs. 2 Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 Art. 2 -
Instanzenzug
VG Minden - 15.04.2013 - AZ: 10 K 1095/13.A
OVG Münster - 19.05.2016 - AZ: OVG 13 A 1490/13.A
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 27.06.2017 - 1 C 26.16 - [ECLI:DE:BVerwG:2017:270617B1C26.16.0]
Beschluss
BVerwG 1 C 26.16
- VG Minden - 15.04.2013 - AZ: 10 K 1095/13.A
- OVG Münster - 19.05.2016 - AZ: OVG 13 A 1490/13.A
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Juni 2017
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke, Dr. Rudolph
und Dr. Wittkopp
beschlossen:
- Das Verfahren wird ausgesetzt.
- Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der ersucht wird, die Rechtssache gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, zu folgenden Fragen eingeholt:
- 1. Ist ein Mitgliedstaat (hier: Deutschland) unionsrechtlich gehindert, einen Antrag auf internationalen Schutz wegen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Italien) in Umsetzung der Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU bzw. der Vorgängerregelung in Art. 25 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2005/85/EG als unzulässig abzulehnen, wenn die Ausgestaltung des internationalen Schutzes, namentlich die Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge, in dem anderen Mitgliedstaat, der dem Antragsteller bereits internationalen Schutz gewährt hat (hier. Italien), den Anforderungen der Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU nicht genügt, ohne bereits gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK zu verstoßen?
- 2. Falls Frage 1 zu bejahen ist: Gilt dies auch dann, wenn anerkannten Flüchtlingen im Mitgliedstaat der Flüchtlingsanerkennung (hier: Italien)
- a) keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen gewährt werden, sie insoweit aber nicht anders behandelt werden als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates?
- b) zwar die Rechte nach Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU gewährt werden, sie aber faktisch erschwerten Zugang zu den damit verbundenen Leistungen haben oder solchen Leistungen familiärer oder zivilgesellschaftlicher Netzwerke haben, die staatliche Leistungen ersetzen oder ergänzen?
- 3. Steht Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2013/32/EU bzw. die Vorgängerregelung in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2005/85/EG der Anwendung einer nationalen Bestimmung entgegen, wonach eine unterbliebene persönliche Anhörung des Antragstellers bei einer von der Asylbehörde in Umsetzung der Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU bzw. der Vorgängerregelung in Art. 25 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2005/85/EG ergangenen Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nicht zur Aufhebung dieser Entscheidung wegen fehlender Anhörung führt, wenn der Antragsteller im Rechtsbehelfsverfahren Gelegenheit hat, alle gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung sprechenden Umstände vorzubringen und auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens in der Sache keine andere Entscheidung ergehen kann?
Gründe
I
1 Der Kläger, nach eigenen Angaben Staatsangehöriger Eritreas, wendet sich gegen die Feststellung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), dass ihm aufgrund der Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht.
2 Der Kläger hielt sich bis September 2011 in Italien auf, wo er einen anderen Namen und ein anderes Geburtsdatum angegeben hatte und als äthiopischer Staatsangehöriger geführt wurde. Dort wurde er als Flüchtling anerkannt und erhielt eine bis zum 5. Februar 2015 gültige Aufenthaltserlaubnis sowie einen ebenfalls bis zum 5. Februar 2015 gültigen Reiseausweis.
3 Im September 2011 reiste er nach Deutschland ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Da seine Fingerkuppen Veränderungen aufwiesen, konnte eine erkennungsdienstliche Behandlung nicht sogleich vorgenommen werden. Dazu angehört, gab er am 1. Dezember 2011 unter anderem an, noch nicht in einem anderen europäischen Land gewesen zu sein. Aufgrund von Fingerabdrücken, die ihm im Juni 2012 abgenommen wurden, stellte sich heraus, dass er schon in Italien um Schutzgewährung nachgesucht hatte. Auf die Bitte, das Asylverfahren zu übernehmen, teilte das italienische Innenministerium unter dem 8. Januar 2013 mit, der Kläger habe in Italien den Flüchtlingsstatus erhalten. Weil sein Asylverfahren damit abgeschlossen sei, komme eine Rückübernahme nach Dublin-Regeln nicht in Betracht; möglich sei sie aber nach dem Rückübernahmeabkommen. Unter dem 26. Februar 2013 teilte das italienische Innenministerium dem Bundespolizeipräsidium mit, dass dem Antrag auf Wiederaufnahme des Klägers entsprochen wurde, da er als Flüchtling anerkannt worden sei und daher seine Rückkehr nach Italien genehmigt werde.
4 Mit Bescheid vom 18. Februar 2013 stellte das Bundesamt fest, dass dem Kläger aufgrund seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht (Ziffer 1), und ordnete seine Abschiebung nach Italien an (Ziffer 2).
5 Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 15. April 2013 ab. Das Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 19. Mai 2016 die Abschiebungsanordnung nach Italien aufgehoben, die Berufung im Übrigen aber zurückgewiesen. Die Feststellung, dass dem Kläger in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht zusteht, sei rechtmäßig, weil der Kläger aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG nach Deutschland eingereist sei (§ 26a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG). Italien sei ein sicherer Drittstaat. Dort drohe dem Kläger keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK. In Italien seien Ausländer, die dort als Flüchtlinge anerkannt worden sind, italienischen Staatsangehörigen gleichgestellt, d.h. es werde grundsätzlich von ihnen erwartet, dass sie selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt sorgen. Dies sei nicht menschenrechtswidrig. Italien habe die EU-Richtlinie 2011/95/EU in nationales Recht umgesetzt. Es sei deshalb davon auszugehen, dass anerkannte Flüchtlinge in Italien in den Genuss der in den Art. 20 bis 35 dieser Richtlinie genannten Rechte kommen. Die Anordnung der Abschiebung nach Italien sei jedoch rechtswidrig, weil nicht feststehe, ob die Übernahmebereitschaft Italiens fortbestehe, nachdem mittlerweile die Gültigkeit des dem Kläger ausgestellten Reiseausweises (5. Februar 2015) abgelaufen sei.
6 Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers. Er rügt zunächst, das Bundesamt habe nicht von einer persönlichen Anhörung des Klägers absehen dürfen. Im Übrigen könne sich das Bundesamt nicht auf die Drittstaatenregelung stützen, wenn der Kläger in einem anderen Mitgliedstaat der EU als Flüchtling anerkannt worden sei. Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 25 Abs. 2a der Richtlinie 2005/85/EG sei nicht getroffen worden.
7 Die Beklagte meint, der Asylantrag sei nunmehr jedenfalls nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig. Die Pflicht zur Anhörung des Klägers sei nicht verletzt. Nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2005/85/EG hindere das Fehlen einer Anhörung die Asylbehörde nicht daran, über den Asylantrag zu entscheiden.
II
8 Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Gemäß Art. 267 AEUV ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) zu den im Beschlusstenor formulierten Fragen einzuholen. Diese Fragen betreffen die Auslegung der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326 S. 13 - Richtlinie 2005/85/EG), die in der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung, ABl. L 180 S. 60 - Richtlinie 2013/32/EU) ihren Anschluss gefunden hat, sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC). Da es um die Auslegung von Unionsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig.
9 1. Die rechtliche Beurteilung der auf Aufhebung von Ziffer 1 des Bescheides vom 18. Februar 2013 gerichteten Anfechtungsklage richtet sich im nationalen Recht nach dem Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch das am 10. November 2016 in Kraft getretene Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches - Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung (StrÄndG 50) vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Rechtsänderungen, die nach der Berufungsentscheidung eintreten, zu berücksichtigen, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte. Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Berufungsgericht nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen hat, müsste es, wenn es jetzt entschiede, die aktuelle Rechtslage zugrunde legen. Dazu gehört auch die durch das Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939) mit Wirkung vom 6. August 2016 geschaffene Neufassung des § 29 AsylG.
10 Den hiernach maßgeblichen rechtlichen Rahmen des Rechtsstreits bilden die folgenden Vorschriften des nationalen Rechts:
11
Art. 16a GG
(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. (...)
(...)
12
§ 24 AsylG
(1) Das Bundesamt klärt den Sachverhalt und erhebt die erforderlichen Beweise. Nach der Asylantragstellung unterrichtet das Bundesamt den Ausländer in einer Sprache, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann, über den Ablauf des Verfahrens und über seine Rechte und Pflichten im Verfahren, insbesondere auch über Fristen und die Folgen einer Fristversäumung. Es hat den Ausländer persönlich anzuhören. Von einer Anhörung kann abgesehen werden, wenn das Bundesamt den Ausländer als asylberechtigt anerkennen will oder wenn der Ausländer nach seinen Angaben aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a) eingereist ist. (...)
(...)
13
§ 26a AsylG
(1) Ein Ausländer, der aus einem Drittstaat im Sinne des Artikels 16a Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (sicherer Drittstaat) eingereist ist, kann sich nicht auf Artikel 16a Abs. 1 des Grundgesetzes berufen. Er wird nicht als Asylberechtigter anerkannt. Satz 1 gilt nicht, wenn
1. (...)
2. die Bundesrepublik Deutschland auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages mit dem sicheren Drittstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist oder
3. (...)
(2) Sichere Drittstaaten sind außer den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die in Anlage I bezeichneten Staaten.
14
§ 29 AsylG
(1) Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn
1. ein anderer Staat
a) nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6 .2013, S. 31) oder
b) auf Grund von anderen Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages
für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist,
2. ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 gewährt hat,
3. ein Staat, der bereit ist, den Ausländer wieder aufzunehmen, als für den Ausländer sicherer Drittstaat gemäß § 26a betrachtet wird,
(...)
15
§ 34a AsylG
(1) Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. (...) Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an.
(2) (...)
16
§ 35 AsylG
In den Fällen des § 29 Absatz 1 Nummer 2 und 4 droht das Bundesamt dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war.
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§ 37 AsylG
(1) Die Entscheidung des Bundesamtes über die Unzulässigkeit nach § 29 Absatz 1 Nummer 2 und 4 des Antrags und die Abschiebungsandrohung werden unwirksam, wenn das Verwaltungsgericht dem Antrag nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung entspricht. Das Bundesamt hat das Asylverfahren fortzuführen.
(...)
18
§ 77 AsylG
(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. (...)
19
§ 25 AufenthG
(...)
(3) Einem Ausländer soll eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 vorliegt. (...)
(...)
20
§ 60 AufenthG
(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.
(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(...)
(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
21
§ 86 VwGO
(1) Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.
(...)
22
§ 46 VwVfG
Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 nichtig ist, kann nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.
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Art. 2 des Europäischen Übereinkommens über den Umgang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 (BGBl. 1994 II S. 2646)
(1) Die Verantwortung gilt nach Ablauf von zwei Jahren des tatsächlichen und dauernden Aufenthalts im Zweitstaat mit Zustimmung von dessen Behörden oder zu einem früheren Zeitpunkt als übergangen, wenn der Zweitstaat dem Flüchtling gestattet hat, entweder dauernd oder länger als für die Gültigkeitsdauer des Reiseausweises in seinem Hoheitsgebiet zu bleiben.
24 Diese Zweijahresfrist beginnt mit der Aufnahme des Flüchtlings im Hoheitsgebiet des Zweitstaats oder, lässt ich dieser Zeitpunkt nicht feststellen, mit dem Tag, an dem er sich bei den Behörden des Zweitstaats meldet.
25 2. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union.
26 a) Das Bundesamt durfte die Prüfung des Asylantrags nicht mit der Begründung ablehnen, dass der Kläger aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Diese auf § 26a AsylG gestützte Entscheidung ist an der während des Revisionsverfahrens in Kraft getretenen Regelung in § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939) zu messen. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein Staat, der bereit ist, den Ausländer wieder aufzunehmen, als für den Ausländer sicherer Drittstaat gemäß § 26a AsylG betrachtet wird. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen nicht vor, weil sicherer Drittstaat in diesem Sinne bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung nur ein Staat sein kann, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union ist. Dies hält der Senat für einen "acte clair", wie er näher in seinen Vorlagebeschlüssen vom 23. März 2017 (u.a. BVerwG 1 C 17.16 - juris Rn. 12 ff.) ausgeführt hat.
27 b) Die Vorlagefragen stellen sich im Rahmen der vom Senat zu prüfenden Frage, ob die vom Bundesamt getroffene Drittstaatenentscheidung in eine andere rechtmäßige Entscheidung umgedeutet werden kann. In Betracht kommt eine Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 AsylG gewährt hat. Für Asylanträge von Ausländern, denen in einem anderen Mitgliedstaat - wie hier - die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, ergab sich deren Unzulässigkeit bis zum Inkrafttreten des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG im August 2016 aus § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - BVerwGE 150, 29 Rn. 29). Eine Ermächtigung zum Erlass einer solchen nationalen Vorschrift enthielt bereits Art. 25 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2005/85/EG. Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU hat diese Möglichkeit inzwischen auf jede Form der Gewährung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat erweitert. Damit kann im vorliegenden Verfahren dahinstehen, welche Fassung der Asylverfahrensrichtlinie hier maßgeblich ist (vgl. hierzu Vorlagebeschlüsse des vorlegenden Gerichts vom 23. März 2017 - BVerwG 1 C 17.16 u.a.).
28 aa) Die Prüfung der Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hat sich hier nicht dadurch erledigt, dass die Entscheidung des Bundesamts infolge der Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz durch das Verwaltungsgericht nach § 37 Abs. 1 AsylG unwirksam geworden ist. Das ist schon deshalb nicht der Fall, weil die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hier gegen einen auf die Drittstaatenregelung des § 26a AsylG gestützten Bescheid und die darin ergangene Abschiebungsanordnung ergangen ist, während sich die Unwirksamkeitsregelung des § 37 Abs. 1 AsylG nur auf Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG bezieht, aber nicht auf Drittstaatenbescheide nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG. Daher brauchte nicht entschieden zu werden, ob es sich bei der Verweisung des § 37 Abs. 1 AsylG auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG um ein Redaktionsversehen handelt.
29 bb) Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen vor. Italien ist ein Mitgliedstaat der EU. Dem Kläger wurde dort nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU zuerkannt und damit internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt.
30 cc) Im vorliegenden Fall bedarf es keiner Klärung durch den Gerichtshof, wie zu verfahren ist, wenn die Ausgestaltung des internationalen Schutzes, namentlich die Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge in dem Mitgliedstaat, der dem Drittstaatsangehörigen Flüchtlingsschutz gewährt hat, gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verstößt (vgl. hierzu Vorlagefrage 3b) Alt. 1 des Vorlagebeschlusses vom 23. März 2017 - BVerwG 1 C 17.16 - juris). Denn das Berufungsgericht ist aufgrund seiner Tatsachen- und Beweiswürdigung, die für das Revisionsgericht bindend ist, zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Bedingungen in Italien nicht gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK verstoßen. Der Kläger hat diese Feststellungen mit der Revision auch nicht angegriffen.
31 dd) Klärungsbedürftig ist jedoch, ob es der Ablehnung des Asylantrags eines bereits als Flüchtling anerkannten Ausländers als unzulässig entgegensteht, wenn die Ausgestaltung des internationalen Schutzes, namentlich die Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge, in dem Mitgliedstaat der Flüchtlingsanerkennung (hier: Italien) den Anforderungen der Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU nicht genügt, ohne bereits gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK zu verstoßen. Diese Frage hat das Berufungsgericht zwar insofern verneint, als es die rechtswirksame Umsetzung der Regelungen der Art. 20 bis 35 Richtlinie 2011/95/EU festgestellt hat. Es hat aber keine hinreichenden Feststellungen dazu getroffen, inwieweit anerkannte Flüchtlinge faktisch erschwerten Zugang zu den durch die Rechte nach Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU vermittelten Leistungen haben und ob sie Zugang zu den Leistungen familiärer oder zivilgesellschaftlicher Netzwerke haben, die staatliche Leistungen ersetzen oder ergänzen. Diese Frage ist entscheidungserheblich, denn im Fall der Bejahung eines rechtlichen Hindernisses für eine Unzulässigkeitsentscheidung in diesem Fall wäre das Verfahren an das Berufungsgericht zur weiteren Sachaufklärung hierzu zurückzuverweisen, im Fall der Verneinung wäre die Revision des Klägers hingegen zurückzuweisen. Die Frage ist klärungsbedürftig, weil in der nationalen Rechtsprechung divergierende Ansichten vertreten werden und der Gerichtshof sie noch nicht entschieden hat.
32
Vorlagefrage 1
Mit der Frage 1 möchte das vorlegende Gericht eine Klärung herbeiführen, ob ein anerkannter Flüchtling Anspruch auf ein weiteres Anerkennungsverfahren in einem anderen EU-Mitgliedstaat hat, wenn die Lebensbedingungen für Flüchtlinge dort zwar nicht gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK verstoßen, es jedoch unterhalb dieser Schwelle tatsächliche Probleme beim Zugang zu den Leistungen gibt, die Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU vermitteln. Das vorlegende Gericht neigt aus zwei Gründen dazu, einen solchen Anspruch zu verneinen.
33 Zum einen würde eine Absenkung der durch Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK gezogenen Schwelle das Gemeinsame Europäische Asylsystem und das ihm zugrunde liegende gegenseitige Vertrauen unterlaufen. Es würde die schon in erheblichem Umfang stattfindende Sekundärmigration von Schutzberechtigten und das sogenannte "asylum shopping" fördern, deren Verhinderung eines der Ziele des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist. Die Regelungen der Anerkennungsrichtlinie über die Ausgestaltung des internationalen Schutzes gewährleisten Flüchtlingen existenzsichernde Leistungen allenfalls in demselben Umfang, wie sie eigene Staatsangehörige erhalten (vgl. Art. 27, 29 Abs. 1 und Art. 30 Richtlinie 2011/95/EU). Daher erhalten Flüchtlinge in Italien - anders als in Deutschland - keine staatliche Sozialhilfe, weil der italienische Staat entsprechende Leistungen auch seinen eigenen Staatsbürgern nicht gewährt. Auch ist das Niveau staatlicher Leistungen sowie das Angebot an Integrationsmaßnahmen (Art. 34 Richtlinie 2011/95/EU) in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich. Der Unionsgesetzgeber hat insoweit auf eine Vereinheitlichung - auch für anerkannte Flüchtlinge - verzichtet. Daraus folgt, dass es unionsrechtlich allenfalls dann geboten sein kann, einen Antrag auf nochmalige Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat entgegen der dort im nationalen Recht angeordneten Unzulässigkeit derartiger Anträge zu prüfen, wenn die Lebensbedingungen in dem Mitgliedstaat, der dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verletzen (zu den vorstehend bezeichneten Problemen s.a. VGH Mannheim, Beschluss vom 15. März 2017 - A 11 S 2151/16 - Asylmagazin 2017, 23b Frage 3).
34 Zum anderen ergibt sich selbst im Fall der Bejahung eines über Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK hinausgehenden Schutzbedarfs nicht die Notwendigkeit eines weiteren Asylverfahrens. Eine Alternative hierzu bietet eine aufenthaltsrechtliche Lösung, die den in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten Flüchtlingen die Rechte nach Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU in Deutschland oder jedenfalls eine gesicherte Rechtsstellung ohne Durchführung eines erneuten Anerkennungsverfahrens einräumt, solange ihm ein Aufenthalt in diesem anderen Mitgliedstaat nicht zumutbar ist. In § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG hat der deutsche Gesetzgeber von der nach Völker- und Unionsrecht möglichen, wenn auch nicht gebotenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Anerkennungsentscheidungen anderer Staaten in begrenztem Umfang Rechtswirkungen auch im eigenen Land beizumessen. Danach gilt das gesetzliche Abschiebungsverbot in den Verfolgerstaat nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auch für ausländische Flüchtlingsanerkennungen (BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - BVerwGE 150, 29 Rn. 29). Besteht für den Ausländer im Staat seiner Flüchtlingsanerkennung (ausnahmsweise) die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC/Art. 3 EMRK, darf er auch in diesen Staat nicht abgeschoben werden (§ 60 Abs. 5 AufenthG). Besteht ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG, "soll" dem Ausländer nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG von der Ausländerbehörde eine (humanitäre) Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ihm auch die Ausreise in einen anderen Staat nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Auf diese Weise kann ein Betroffener auch ohne ein weiteres Asylverfahren einen legalen Aufenthalt in Deutschland erlangen und in den Genuss der damit verbundenen Integrationsrechte kommen. Der Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG hat zwar nicht automatisch zu allen einem anerkannten Flüchtling in Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU gewährten Rechten Zugang. Auf einen in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten Flüchtling findet aber Art. 2 des - von Deutschland ratifizierten - Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 Anwendung. Danach geht die Verantwortung für einen Flüchtling spätestens nach Ablauf von zwei Jahren des "tatsächlichen und dauernden Aufenthalts" im Bundesgebiet auf Deutschland über. Damit kann ein in einem anderen Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling auch ohne Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in Deutschland in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommen.
35 Selbst wenn man von der unionsrechtlichen Vorgabe ausgeht, dass dem in einem Mitgliedstaat anerkannten Flüchtling die mit diesem Status verbundenen Rechte und Vorteile auch nicht vorübergehend vorenthalten werden dürfen, bedarf es bei nicht zumutbarer Rückkehr in den anderen Mitgliedstaat nicht zwingend der Durchführung eines erneuten Asylverfahrens, sondern könnte dieser Vorgabe wirksam auch dadurch Rechnung getragen werden, dass der Betroffene, solange ihm eine Rückkehr in den Mitgliedstaat, der ihn als Flüchtling anerkannt hat, nicht zumutbar ist, im Aufenthaltsmitgliedstaat in unionskonformer Auslegung der nationalen aufenthalts- und sozialrechtlichen Rechtsvorschriften wie ein dort anerkannter Flüchtling zu behandeln ist. Dies hätte gegenüber der Durchführung eines erneuten Anerkennungsverfahrens den Vorzug, dass der Betroffene im Ergebnis nicht besser, aber auch nicht schlechter gestellt würde, als er stünde, wenn der Mitgliedstaat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, den damit verbundenen unionsrechtlichen Verpflichtungen nachkäme. Außerdem würde berücksichtigt, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem auf dem Grundsatz beruht, dass die Prüfung eines Asylantrags nur durch einen einzigen Mitgliedstaat erfolgt (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO). Dies soll nicht nur Mehrfachanerkennungen, sondern auch - bei nochmaliger Durchführung eines Asylverfahrens nicht auszuschließende - divergierende Entscheidungen innerhalb der Union mit allen ihren unionsrechtlich unerwünschten Folgeerscheinungen vermeiden.
36
Vorlagefrage 2
Mit der in zwei Varianten aufgegliederten Frage 2 möchte das vorlegende Gericht weitere Klärung für den Fall der Bejahung von Frage 1 herbeiführen. Dabei dient die Unterfrage a der Klärung, ob der Unzulässigkeit eines erneuten Asylverfahrens auch der Umstand entgegengehalten werden kann, dass anerkannten Flüchtlingen im Mitgliedstaat der Flüchtlingsanerkennung (hier: Italien) keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen gewährt werden, sie insoweit aber nicht anders behandelt werden als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates. Hierdurch soll geklärt werden, ob anerkannte Flüchtlinge einen Anspruch auf einen über eine formalrechtliche Gleichbehandlung mit den eigenen Staatsangehörigen hinausgehenden Mindeststandard haben.
37 Mit der Unterfrage b soll geklärt werden, ob der Unzulässigkeit eines erneuten Asylverfahrens auch der Umstand entgegengehalten werden kann, dass anerkannten Flüchtlingen im Mitgliedstaat der Flüchtlingsanerkennung (hier: Italien) zwar die Rechte nach Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU gewährt werden, sie aber faktisch erschwerten Zugang zu den damit verbundenen Leistungen haben oder zu solchen Leistungen familiärer oder zivilgesellschaftlicher Netzwerke, die staatliche Leistungen ersetzen oder ergänzen. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass aufgrund der Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU in Italien grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass anerkannte Flüchtlinge dort in den Genuss der in den Art. 20 bis 35 dieser Richtlinie genannten Rechte kommen. Es hat diese auf die Rechtslage abstellende Bewertung durch Tatsachenerkenntnisse des Auswärtigen Amtes, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und weiterer Nichtregierungsorganisationen untermauert. Auf dieser Grundlage gelangt es zu dem Ergebnis, dass Flüchtlinge in gleichem Umfang einen begrenzten, aber Art. 3 EMRK nicht verletzenden Zugang zu öffentlichen Fürsorgeleistungen und privaten Unterstützungsleistungen haben wie Italiener. Die gleiche Feststellung trifft das Berufungsgericht für den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Was die Versorgung anerkannter Flüchtlinge mit Wohnraum anbelangt, stehen nach den Erkenntnissen des Berufungsgerichts in Italien landesweit ausreichend öffentliche oder caritative Unterkunftsmöglichkeiten zur Verfügung (bei teilweiser lokaler Überbelegung). Zugleich räumt es ein, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt schwierig sei. Viele Flüchtlinge, insbesondere junge Männer, die mit gleichaltrigen italienischen Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt konkurrierten, fänden häufig nur als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft eine Beschäftigung. In seiner Gesamtwürdigung kommt das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, dass anerkannte Flüchtlinge in Italien jedenfalls ihre Grundbedürfnisse decken können. Gelinge dies nicht sogleich oder vollständig, könnten sie die Hilfe caritativer Organisationen erhalten. Aus den Feststellungen des Gerichts ergeben sich allerdings auch Hinweise auf tatsächliche Probleme bei der Wahrnehmung der durch Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU gewährten Rechte, etwa beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Zum anderen wurde - vom Rechtsstandpunkt des Gerichts konsequent - nicht näher untersucht, in welchem Umfang Flüchtlinge erschwerten Zugang zu Leistungen familiärer oder zivilgesellschaftlicher Netzwerke haben, die staatliche Leistungen ersetzen oder ergänzen. Entsprechendes gilt für die Frage des Angebots von Integrationsmaßnahmen nach Art. 34 der Richtlinie 2011/95/EU. Es bedarf daher der Klärung durch den Gerichtshof, ob es hierauf für die Frage der Eröffnung eines erneuten Asylverfahrens ankommt.
38 ee) Klärungsbedürftig ist weiter, welche Folgen die fehlende Anhörung des Ausländers zur beabsichtigten Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts hat, die Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2005/85/EG vorschreibt, wenn er im Rechtsbehelfsverfahren Gelegenheit hat, alle gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung sprechenden Umstände vorzubringen und auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens aus Rechtsgründen keine andere Entscheidung in der Sache ergehen kann. Dieser Klärung dient die dem Gerichtshof unterbreitete Vorlagefrage 3.
39 Im vorliegenden Verfahren stellte der Kläger im September 2011 in Deutschland einen Asylantrag. In der von ihm unterschriebenen Niederschrift zum Asylantrag machte er Angaben zu seinen Personalien und bezeichnete den Antrag als Asylerstantrag. Aufgrund von Veränderungen seiner Fingerkuppen erbrachten Eurodac-Anfragen zunächst keine Treffermeldung. Allerdings verneinte der Kläger bei einer Vorsprache beim Bundesamt am 1. Dezember 2011 ausdrücklich die Frage, schon einmal in einem anderen europäischen Land gewesen zu sein. Er gab an, in Eritrea als Soldat gearbeitet zu haben. Aufgrund von Fingerabdrücken, die ihm im Juni 2012 abgenommen wurden, ergab sich, dass er im Jahr 2009 bereits in Italien Asyl beantragt hatte. Aus Mitteilungen des italienischen Innenministeriums vom Januar 2013 und Februar 2013 ergab sich weiter, dass dem Kläger in Italien die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war, wenn auch unter einem anderen Namen und Geburtsdatum, und ihm eine Aufenthaltserlaubnis mit Gültigkeit bis zum 5. Februar 2015 ausgestellt worden war. Das Bundesamt erließ am 18. Februar 2013 die hier angefochtene Verfügung, ohne den Kläger zuvor zu den vom italienischen Innenministerium mitgeteilten Tatsachen und der beabsichtigten Ablehnung seines Asylantrags anzuhören.
40 Das vom Bundesamt gewählte Verfahren verstieß gegen das bereits damals geltende deutsche Asylverfahrensrecht. Nach § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG ist das Bundesamt zu einer Anhörung des Ausländers gemäß § 25 AsylG verpflichtet (vgl. heute ergänzend § 29 Abs. 2 AsylG). Eine solche ist nicht erfolgt, der Kläger ist weder zu seinen Verfolgungsgründen noch zu seinem Aufenthalt in Italien und der dort erfolgten Flüchtlingsanerkennung angehört worden. Zwar kann nach § 24 Abs. 1 Satz 4 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden, wenn der Ausländer "nach seinen Angaben aus einem sicheren Drittstaat (§ 26 a) eingereist ist". Die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestandes sind jedoch nicht erfüllt, denn der Kläger hat derartige Angaben nicht gemacht, das Bundesamt hat seine entsprechenden Erkenntnisse vielmehr über einen Eurodac-Treffer und dem folgende Informationen der italienischen Behörden erlangt.
41 Das vom Bundesamt gewählte Verfahren verstieß auch gegen Unionsrecht, denn Art. 12 Richtlinie 2005/85/EG schreibt eine Anhörung des Asylantragstellers vor. Einer der Ausnahmetatbestände des Art. 12 Abs. 2 Richtlinie 2005/85/EG lag nicht vor. Zwar hat bereits am 22. September 2011 ein Treffen mit dem Kläger stattgefunden, in dem er bei der Ausfüllung des Antrags im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b Richtlinie 2005/85/EG unterstützt wurde. Das ausgefüllte Formular nahm auch alle Angaben auf, die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG aufgeführt werden, allerdings mit Ausnahme der Gründe für seinen Asylantrag. Da Angaben hierzu fehlen, durfte nach Art. 12 Abs. 2 Buchst. b Richtlinie 2005/85/EG nicht von der Anhörung abgesehen werden. Von der Verpflichtung zur Anhörung war das Bundesamt auch nicht aufgrund der Regelung des Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2005/85/EG befreit. Nach dieser Vorschrift hindert die Tatsache, dass keine persönliche Anhörung gemäß Art. 12 Richtlinie 2005/85/EG stattgefunden hat, die Asylbehörde nicht daran, über den Asylantrag zu entscheiden. Das vorlegende Gericht versteht die Regelung dahin, dass sie sich nur auf die Fallgestaltungen bezieht, in denen eine Anhörung nach den Bestimmungen der Richtlinie 2005/85/EG unterbleiben durfte (z.B. nach Art. 12 Abs. 2 und 3 Richtlinie 2005/85/EG). Auch in der Kommentarliteratur wird die Vorschrift so ausgelegt (vgl. Vedsted-Hansen, in: Hailbronner/Thym <Hrsg.>, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Asylum Procedures Directive 2013/32/EU Art. 14 Rn. 8). Derartige Ausnahmen von der Anhörungspflicht liegen hier nicht vor. Nichts anderes gilt bei Anwendung des Art. 14 und des Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU.
42 Zu klären ist, ob die Ausnahmeregelungen des Art. 12 Abs. 2 und 3 Richtlinie 2005/85/EG bzw. des Art. 14 Abs. 2 Richtlinie 2013/32/EU abschließend sind oder das Unionsrecht aufgrund der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten weitere im nationalen Recht ausdrücklich geregelte Ausnahmen und Heilungsmöglichkeiten zulässt. Das nationale Recht stuft einen Anhörungsmangel nach § 46 VwVfG als unerheblich ein, wenn offensichtlich ist, dass er die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Das ist hier zu bejahen, weil die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG eine gebundene Entscheidung darstellt. In derartigen Fällen kann sich ein Anhörungsmangel im Ergebnis nicht auswirken, weil das Bundesamt und nachfolgend die Verwaltungsgerichte aufgrund der ihnen jeweils obliegenden Amtsermittlungspflicht verpflichtet sind, alle Tatbestandsvoraussetzungen der Norm von Amts wegen aufzuklären. Das gilt auch für eventuelle ungeschriebene Voraussetzungen, wie sie sich u.a. aus der Beantwortung der Vorlagefragen 1 und 2 aus unionsrechtlichen Gründen ergeben könnten (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 22. November 2016 - 16 A 5054/14 - juris Rn. 16, VG Lüneburg, Urteil vom 21. Dezember 2016 - 8 A 170/16 - juris Rn. 23). Allerdings hat es eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts für den Anwendungsbereich der hier nicht maßgeblichen Dublin III-Verordnung als klärungsbedürftige Frage angesehen, ob die Anwendung von § 46 VwVfG dadurch beschränkt wird, dass Art. 5 Abs. 2 Dublin III-Verordnung - ähnlich wie hier Art. 12 Abs. 2 und 3 Richtlinie 2005/85/EG und Art. 14 Abs. 2 und Art. 34 Abs. 1 Richtlinie 2013/32/EU - Fallgruppen normiert, in denen von einem persönlichen Gespräch (Anhörung) abgesehen werden darf, sofern dies eine spezielle und insoweit abschließende Regelung des Verfahrens darstellt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 17. Januar 2017 - 2 BvR 2013/16 - juris Rn. 20).
43 Der Gerichtshof hat sich zwar schon mit Heilungsmöglichkeiten bei Anhörungsmängeln befasst, nicht aber in Bezug auf Unzulässigkeitsentscheidungen nach Art. 25 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2005/85/EG oder Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU. So hat er bei einer fehlerhaften Öffentlichkeitsbeteiligung im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung einen Verstoß gegen Art. 11 der Richtlinie 2011/92/EU dann bejaht, wenn - gestützt auf § 46 VwVfG - einem Kläger als Mitglied der betroffenen Öffentlichkeit die Beweislast für das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem von ihm geltend gemachten Verfahrensfehler und dem Ergebnis der Verwaltungsentscheidung aufgebürdet wird (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2015 - C-137/14 [ECLI:EU:C:2015:683], Europäische Kommission/Bundesrepublik Deutschland - Rn. 62). Eine Rechtsverletzung im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2011/92/EU kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur dann verneint werden, wenn das Gericht oder die Stelle im Sinne dieses Artikels - ohne dem Rechtsbehelfsführer in irgendeiner Form die Beweislast für den Kausalzusammenhang aufzubürden - gegebenenfalls anhand der vom Bauherrn oder von den zuständigen Behörden vorgelegten Beweise und, allgemeiner, der gesamten dem Gericht oder der Stelle vorliegenden Akte zu der Feststellung in der Lage ist, dass die angegriffene Entscheidung ohne den vom Rechtsbehelfsführer geltend gemachten Verfahrensfehler nicht anders ausgefallen wäre (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2015 - C-137/14 - Rn. 60).
44 Ausgehend von der vorstehend dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich zu dem Anhörungsmangel nach Art. 12 Richtlinie 2005/85/EG/Art. 14 i.V.m. Art. 34 Richtlinie 2013/32/EU ausführen, dass dieser nach nationalem Recht im gerichtlichen Verfahren in vollem Umfang kompensiert wird. Der Kläger hat in seiner Klageschrift umfangreich dargelegt, mit welchen Problemen er in Italien bei der Suche nach einer Wohnung konfrontiert war, für deren Anmietung ihm die finanziellen Mittel gefehlt hätten. Er hat ferner eingehend dargelegt, welche Schwierigkeiten er bei der Arbeitssuche gehabt habe, weshalb er habe betteln oder Essen bei der Caritas holen müssen. Wegen der Perspektivlosigkeit seiner Situation habe er sich entschlossen, nach Deutschland weiterzureisen. Das Verwaltungsgericht hat daraufhin beschlossen, dass die angeordnete Abschiebung nicht vollzogen werden darf und von Amts wegen Auskünfte des Auswärtigen Amtes und der "Associazione per gli Studi Giuridici sull'Immigrazione" (ASGI) über die Rechte eines anerkannten Flüchtlings in Italien im Hinblick auf Aufenthalt, Freizügigkeit, Zugang zur Arbeit und medizinischer Versorgung ausgewertet. Das erfolgte unter Beachtung von § 86 Abs. 1 VwGO, wonach das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen erforscht. Die Beteiligten sind dabei heranzuziehen, das Gericht ist jedoch - anders als in vielen anderen EU-Mitgliedstaaten - an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Das Verwaltungsgericht hat die Klage aufgrund seiner eigenverantwortlichen Tatsachen- und Beweiswürdigung dann im Ergebnis abgewiesen, weil es auch unter Würdigung des Vorbringens und der individuellen Umstände des Klägers zu dem Ergebnis gelangt ist, dass er als alleinstehender junger Mann nach und nach in Italien werde Fuß fassen können und es ihm auch möglich sei, jedenfalls zu Beginn auf die Hilfe karitativer Einrichtungen zurückzugreifen. Auch das Berufungsgericht hat von Amts wegen unter Auswertung unterschiedlicher Erkenntnisquellen untersucht, ob der Kläger im Fall seiner Abschiebung nach Italien Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Es hat auf den Seiten 20 bis 26 seines Urteils im Einzelnen dargelegt, warum dies aufgrund seiner Tatsachen- und Beweiswürdigung nicht der Fall ist und sich dabei auf Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und weiterer Nichtregierungsorganisationen gestützt. Auch die individuelle Lage des Klägers, wie sie sich aus den festgestellten Tatsachen und seinem Vorbringen ergibt, wurde dabei gewürdigt. Dem Kläger wurde nicht die Beweislast für das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem von ihm geltend gemachten Anhörungsmangel und dem Ergebnis der Verwaltungsentscheidung aufgebürdet. Vielmehr hat das Berufungsgericht unter Bezugnahme auf das oben zitierte Urteil des Gerichtshofs vom 15. Oktober 2015 die Beweislast hierfür der Behörde auferlegt (UA S. 11). Es hat den Kausalzusammenhang bejaht, weil sich dies aus Rechtsgründen ergebe. Zwar ist vorliegend noch nicht abschließend geklärt, ob eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG über die ausländische Flüchtlingsanerkennung hinaus aus unionsrechtlichen Gründen weitere ungeschriebene Voraussetzungen hat und welche dies gegebenenfalls sind (vgl. dazu etwa Vorlagefragen 1 und 2). Soweit dies der Fall sein sollte und das Vorliegen dieser Voraussetzungen vom Senat anhand der vom Berufungsgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen - in denen auch das Vorbringen des Klägers im gerichtlichen Verfahren berücksichtigt ist - nicht feststellbar sein sollte, könnte die Entscheidung des Bundesamts, wegen der Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylverfahren durchzuführen, nicht in eine Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umgedeutet werden. Sie wäre dann wegen materieller Rechtswidrigkeit aufzuheben.
45 Auch im Normalfall, in dem es nicht um eine Umdeutung geht, hat ein Anhörungsmangel im deutschen Verwaltungsprozessrecht bei gebundenen Entscheidungen keine selbstständige Bedeutung. Die Amtsermittlungspflicht der Behörde und die umfassende gerichtliche Überprüfung durch die ebenfalls zur Amtsermittlung verpflichteten Verwaltungsgerichte, die überdies dem Kläger selbst rechtliches Gehör gewähren, führt dazu, dass sich eine derartige Verwaltungsentscheidung am Ende entweder als rechtmäßig oder aber als materiell rechtswidrig erweist, ohne dass dem Verfahrensfehler eigenständige Bedeutung zukommt. Der Gerichtshof wird zu würdigen haben, ob diese umfassende gerichtliche Überprüfung es rechtfertigt, einen Anhörungsmangel nach nationalem Recht für unbeachtlich zu erklären, soweit der Behörde bei ihrer Entscheidung - wie hier - kein Ermessen eröffnet ist.
46 Bei seiner Bewertung der Rechtslage könnte auch eine Rolle spielen, welchen unionsrechtlichen Einschränkungen Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU bzw. die Vorgängerregelung in Art. 25 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2005/85/EG unterliegt und wie der Gerichtshof die Vorlagefragen 1 und 2 beantwortet. Denn wenn die Zurückführung eines anerkannten Flüchtlings in den EU-Mitgliedstaat, der ihn anerkannt hat, voraussetzt, dass über das Fehlen von Gründen nach Art. 4 GRC/Art. 3 EMRK hinaus kein faktisch erschwerter Zugang zu den Rechten nach Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU bestehen darf wie auch zu den damit verbundenen Leistungen einschließlich solcher familiärer oder zivilgesellschaftlicher Netzwerke, erweitert sich der Prüfungsumfang für Behörden und Gerichte. Aus einem derartig erweiterten Prüfungsumfang könnte der Gerichtshof eine erhöhte Bedeutung einer unterlassenen Anhörung ableiten.
47 Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof, bei Beantwortung der Vorlagefrage 3 auch seine Rechtsprechung zu präzisieren, wie er sie in seinem Urteil vom 10. September 2013 zur Auslegung der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG formuliert hat (- C-383/13 PPU [ECLI:EU:C:2013:533] -). In dem entschiedenen Fall ging es um die Verlängerung der Abschiebungshaft eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, die ohne vorherige Anhörung des Betroffenen erfolgt war. Der Gerichtshof führt dazu aus, dass nach dem Unionsrecht eine Verletzung der Verteidigungsrechte, insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör, nur dann zur Nichtigerklärung der Verwaltungsentscheidung führt, wenn das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (Rn. 38). Er betont, dass nicht jeder Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör systematisch zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung im Sinne von Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG führt (Rn. 39). Das präzisiert er dann dahin, dass dem nationalen Gericht zur Feststellung einer solchen Rechtswidrigkeit die Prüfungspflicht obliegt, ob das fragliche Verwaltungsverfahren unter den speziellen tatsächlichen und rechtlichen Umständen des konkreten Falles zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, weil die betroffenen Drittstaatsangehörigen Gesichtspunkte hätten geltend machen können, die geeignet gewesen wären, die Beendigung ihrer Haft zu rechtfertigen (Rn. 40). Übertragen auf den vorliegenden Fall würde dies eine Pflicht der nationalen Gerichte bedeuten zu prüfen, ob das Verwaltungsverfahren aufgrund des Vorbringens des Flüchtlings zu den Lebensbedingungen in Italien zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Das wird man für die allgemeinen Lebensbedingungen verneinen können, weil diese von Amts wegen zu prüfen sind, nicht indes für individuelle Umstände - etwa eine Krankheit des Flüchtlings - die dem Bundesamt ohne Mitteilung durch den Flüchtling in der Regel nicht bekannt sind. Aber auch hier wird der Gerichtshof um Beantwortung der Frage gebeten, ob ein Mangel des behördlichen Anhörungsverfahrens im anschließenden gerichtlichen Verfahren geheilt werden kann, wenn von Amts wegen alle vom Kläger vorgetragenen sowie weitere entscheidungserhebliche Tatsachen aufgeklärt und gewürdigt werden und zu keinem anderen Ergebnis führen.
48 3. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof, über die Vorlagefragen im beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu entscheiden, weil die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert. Die vorgelegten Fragen stehen im Zusammenhang mit der - unionsrechtlich unerwünschten - Sekundärmigration von Asylsuchenden, zu deren bevorzugten Zielen Deutschland seit geraumer Zeit gehört. Es ist davon auszugehen, dass beim Bundesamt und den Verwaltungsgerichten derzeit mehrere tausend Verfahren zu bearbeiten sind, in denen sich die aufgeworfenen Fragen (zumindest teilweise) stellen, und die aufgrund des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens nicht abschließend entschieden werden können.