Beschluss vom 29.07.2022 -
BVerwG 7 B 23.21ECLI:DE:BVerwG:2022:290722B7B23.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 29.07.2022 - 7 B 23.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:290722B7B23.21.0]

Beschluss

BVerwG 7 B 23.21

  • OVG Münster - 03.09.2021 - AZ: 11 D 79/19.AK

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Juli 2022
durch
den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Korbmacher und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Schemmer und Dr. Günther
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. September 2021 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 60 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Die Klägerin ist Eigentümerin eines Grundstücks, das mit einem Mehrfamilienhaus bebaut ist. Westlich des Grundstücks verläuft die zweigleisige Eisenbahnstrecke Aachen-Kassel; südwestlich des Grundstücks liegt der Haltepunkt Aachen-Schanz. Die Beigeladene beantragte die planungsrechtliche Zulassung einer Verlängerung von zwei Außenbahnsteigen an dem Haltepunkt. Im Zuge der geplanten Baumaßnahmen soll eine 94 qm große Teilfläche des Grundstücks der Klägerin vorübergehend als Zugang zum Bahngelände in Anspruch genommen werden. Nach Durchführung des Anhörungsverfahrens, an dem sich die Klägerin nicht beteiligte, genehmigte die Beklagte das Vorhaben mit Planfeststellungsbeschluss vom 29. Mai 2019. Die Klage der Klägerin gegen den Planfeststellungsbeschluss wies das Oberverwaltungsgericht zurück. Der Planfeststellungsbeschluss sei nicht deswegen rechtswidrig, weil es an einer Ermächtigungsgrundlage für die im Planfeststellungsbeschluss vorgesehene baubedingte vorübergehende Inanspruchnahme des klägerischen Grundstücks fehle. Verstöße der Beklagten gegen das Abwägungsgebot des § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG a. F. seien nicht erkennbar.

2 Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin.

II

3 Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

4 1. Die Rechtssache hat nicht die ihr von der Klägerin beigemessene grundsätzliche Bedeutung.

5 Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt werden, dass und inwiefern diese Voraussetzungen vorliegen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91> und vom 30. Dezember 2021 - 7 BN 2.21 - juris Rn. 5). An diesen Voraussetzungen fehlt es hier.

6 Die Beschwerde möchte grundsätzlich geklärt wissen,
ob § 22 Abs. 1 AEG a. F. über seinen Wortlaut hinaus nicht nur die Enteignung von Grundbesitz ermöglicht, sondern auch die vorübergehende Inanspruchnahme für die Durchführung von Bauarbeiten.

7 Ob der Klärungsbedürftigkeit der Frage bereits entgegensteht, dass der Gesetzgeber § 22 AEG durch Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes vom 3. Dezember 2020 (BGBl. I S. 2694) geändert hat und es sich insoweit um ausgelaufenes Recht handelt, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Die Grundsatzrüge bleibt ohne Erfolg, weil die Frage in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt ist.

8 Dem Planfeststellungsbeschluss kommt im Eisenbahnrecht und im Fernstraßenrecht, da er Grundlage der nachfolgenden Enteignung ist (§ 22 Abs. 1 AEG bzw. § 19 Abs. 1 FStrG), enteignungsrechtliche Vorwirkung zu. Daher haben Betroffene, deren durch Art. 14 Abs. 1 GG geschütztes Grundeigentum (teilweise) für das Planvorhaben in Anspruch genommen werden soll, einen Anspruch darauf, von einer Entziehung ihres Grundeigentums verschont zu bleiben, die nicht dem Wohl der Allgemeinheit dient, insbesondere nicht gesetzmäßig ist (Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG), und auf eine dahingehende umfassende gerichtliche Überprüfung des Planfeststellungsbeschlusses (BVerwG, Urteil vom 14. November 2012 - 9 C 14.11 - BVerwGE 145, 96 Rn. 10). Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht im Beschluss vom 17. September 2004 - 9 VR 3.04 - (Buchholz 316 § 76 VwVfG Nr. 13 S. 6) offengelassen, ob die vorübergehende Belastung eines Grundstücks lediglich eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums ist oder die Voraussetzungen einer Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG erfüllt sind (eine Enteignung verneinend VGH Mannheim, Beschluss vom 11. November 2013 - 5 S 1036/13 - juris Rn. 28). Das Bundesverwaltungsgericht geht aber mittlerweile davon aus, dass auch die vorübergehende fremdbestimmte Nutzung eines Grundstücks zum Zweck des Baus und des Ausbaus von Betriebsanlagen der Eisenbahn eine Enteignung im Sinne von § 22 AEG ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2021 - 7 A 9.20 - UPR 2021, 487 Rn. 3 und 10; zum Fernstraßenrecht vgl. § 19 FStrG, hierzu BVerwG, Urteil vom 12. Juni 2019 - 9 A 2.18 - BVerwGE 166, 1 Rn. 25; vgl. auch Schütz, in: Hermes/Sellner, AEG, 2. Aufl. 2014, § 22 Rn. 36). Die enteignungsrechtliche Vorwirkung des Planfeststellungsbeschlusses erstreckt sich daher gemäß § 19 FStrG und § 22 AEG auf Grundstücke, welche für das Vorhaben teils vorübergehend, teils dauerhaft in Anspruch genommen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. November 2020 - 9 A 12.19 - BVerwGE 170, 33 Rn. 16).

9 2. Aus dem Vorbringen der Klägerin ergibt sich nicht das Vorliegen eines Verfahrensmangels im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, auf dem das angegriffene Urteil beruhen kann.

10 Die Beschwerde rügt, dem Oberverwaltungsgericht sei ein Verfahrensfehler unterlaufen. Es habe das Vorbringen, die Beklagte habe sich im Planfeststellungsbeschluss nicht mit dem erforderlichen Sichtschutz befasst, nicht berücksichtigt. Vielmehr habe es erörtert, ob das Absehen von Schutzmaßnahmen wegen des Einblicks in die Wohnungen auf dem klägerischen Grundstück, vertretbar sei. Diese Rüge führt nicht zum Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde.

11 Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht zwar, entscheidungserheblichen Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen, nicht aber, jedes Vorbringen der Beteiligten zu bescheiden. Das Gericht muss nicht auf sämtliches Tatsachenvorbringen und alle Rechtsauffassungen eingehen, die im Verfahren von der einen oder anderen Seite zur Sprache gebracht werden. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Nur bei Vorliegen deutlich gegenteiliger Anhaltspunkte ist der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Es sind daher im Einzelfall besondere Umstände deutlich zu machen, dass tatsächliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen worden ist (BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <145 f.>; BVerwG, Beschlüsse vom 27. Oktober 1998 - 8 B 132.98 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 162 S. 507, vom 2. Juli 2007 - 7 B 65.06 - juris Rn. 12 und vom 8. August 2012 - 7 B 1.12 - juris Rn. 5).

12 Danach liegt kein Gehörsverstoß vor, auf dem das Urteil des Oberverwaltungsgerichts beruhen kann. Zwar hat das Oberverwaltungsgericht nicht ausdrücklich berücksichtigt, dass der Planfeststellungsbeschluss das Fehlen des Sichtschutzes nicht behandelt hatte. Aus Sicht des Oberverwaltungsgerichts kam es aber vielmehr auf die im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzten Erwägungen zur fehlenden Beeinträchtigung des klägerischen Grundstücks an. Diese hat das Oberverwaltungsgericht im Urteil nachvollzogen und sich somit ausdrücklich mit dem gerügten Unterlassen von Schutzmaßnahmen auseinandergesetzt.

13 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.