Verfahrensinformation

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die sog. Praxisgebühr, die gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 BhV von der Beihilfe abgezogen und einbehalten wird. Der Kläger meint, diese Regelung verstoße gegen den verfassungsrechtlichen Fürsorgegrundsatz. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat ihr mit der Begründung stattgegeben, die Praxisgebühr verstoße schon deshalb gegen höherrangiges Recht, weil der Dienstherr das verfahrensrechtliche Gebot nicht beachtet habe, sich bei Kürzungen oder Einschränkungen der Beihilfe über die Auswirkungen seiner Regelungen im Gesamtgefüge von Eigenvorsorge, Beihilfe und verfügbarer Alimentation in angemessener Weise zu vergewissern.


Pressemitteilung Nr. 26/2009 vom 30.04.2009

Praxisgebühr auch für Beamte

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass auch Beamte und ihre beihilfeberechtigten Familienangehörigen die sogenannte Praxisgebühr zu zahlen haben.


Die Entscheidung des Gerichts erging auf der Grundlage der in den Jahren 2004 bis 2007 anzuwendenden Beihilfevorschriften des Bundes. Wie auch nach heutigem Recht wurde die Beihilfe für ambulante ärztliche, zahnärztliche oder psychotherapeutische Leistungen grundsätzlich um 10 € je Quartal je Beihilfeberechtigten und berücksichtigungsfähigen Angehörigen gekürzt.


Das Oberverwaltungsgericht Münster hatte zwei gegen diese Regelung gerichteten Klagen stattgegeben. Zur Begründung hatte es ausgeführt, die Regelung verstoße gegen Verfassungsrecht. Der Vorschriftengeber habe nicht hinreichend geprüft, ob die Minderung der Beihilfe um den Betrag der Praxisgebühr die Alimentation der Beamten unzumutbar schmälert. Dieser Rechtsauffassung ist das Bundesverwaltungsgericht entgegen getreten.


Die Praxisgebühr ist mit höherrangigem Recht vereinbar. Insbesondere ist die Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber seinen Beamten nicht verletzt. Die damaligen Beihilfevorschriften stellen sicher, dass die Kürzung der Beihilfe durch die Praxisgebühr für den Beamten und seine berücksichtigungsfähigen Angehörigen zusammen zumutbar ist. So entfällt die Praxisgebühr, wenn sie zusammen mit den nicht erstatteten Aufwendungen insgesamt 2% des jährlichen Einkommens überschreitet. Für chronisch Kranke, die wegen derselben Krankheit in Dauerbehandlung sind, beträgt die Belastungsgrenze sogar 1% des jährlichen Einkommens.


BVerwG 2 C 127.07 - Urteil vom 30.04.2009

BVerwG 2 C 11.08 - Urteil vom 30.04.2009


Urteil vom 30.04.2009 -
BVerwG 2 C 11.08ECLI:DE:BVerwG:2009:300409U2C11.08.0

Urteil

BVerwG 2 C 11.08

  • OVG Münster - 07.12.2007 - AZ: OVG 1 A 4493/06 -
  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 07.12.2007 - AZ: OVG 1 A 4493/06

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 30. April 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kugele, Groepper, Dr. Heitz und Dr. Burmeister
für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. Dezember 2007 wird aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 23. Oktober 2006 zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Der Kläger ist beihilfeberechtigter Versorgungsempfänger des Bundes. Er beantragte am 15. Juni, 12. Juli und 5. August 2004 beim Bundesamt für Finanzen Beihilfe zu Aufwendungen für ambulante ärztliche und zahnärztliche Leistungen in drei Quartalen des Jahres 2004. Die Beklagte setzte die Beihilfe mit Bescheiden vom 6. Juli, 18. August und 2. September 2004 fest, zog allerdings für jedes Quartal die sogenannte Praxisgebühr von insgesamt 30 € ab.

2 Das Verwaltungsgericht hat die gegen die Kürzung der Beihilfe gerichtete Klage abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat das Urteil geändert und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine weitere Beihilfe in Höhe der Kürzung zu bewilligen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

3 Der Anspruch des Klägers dürfe nicht durch Anwendung des § 12 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 der Beihilfevorschriften der Beklagten gemindert werden. Diese Regelung sei nichtig; sie verstoße schon deshalb gegen höherrangiges Recht, weil der Normgeber das verfahrensrechtliche Gebot nicht beachtet habe, sich bei Kürzungen oder Einschränkungen der Beihilfe über deren Auswirkungen im Gesamtgefüge von Eigenvorsorge, Beihilfe und verfügbarer Alimentation in angemessener Weise zu vergewissern. Dies wäre aber erforderlich gewesen, weil die Höhe der Praxisgebühr vor allem bei mehreren Beihilfeberechtigten in der Familie des Beamten keine bloß geringfügige, unter der Marginalitätsgrenze liegende finanzielle Belastung sei. Das gelte besonders für das Jahr 2004, das Kürzungen der Dienst- und Versorgungsbezüge bis in die Nähe eines Eingriffs in die amtsangemessene Alimentation gebracht habe. Gerade bei kleinschnittigen Einschränkungen sei es unabdingbar, die Gesamtbelastung in den Blick zu nehmen. Fehlten materielle Standards gültiger und objektiv nachvollziehbarer Ableitung, so gewinne zum Schutz der Rechte aus Art. 33 Abs. 5 GG der Gesichtspunkt des Grundrechtsschutzes durch Verfahren an Bedeutung. An der Unwirksamkeit der streitigen Regelung könne auch die Härtefallregelung des § 12 Abs. 2 der Beihilfevorschriften der Beklagten nichts ändern. Diese Bestimmung sei weder der im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung geltenden Härtefallregelung des § 62 SGB V nachempfunden, noch nehme sie die Alimentationssituation der Beamten hinreichend in den Blick.

4 Mit der Revision macht die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts geltend und beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. Dezember 2007 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 23. Oktober 2006 zurückzuweisen.

5 Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

II

6 Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) und stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die Beklagte war berechtigt, die Beihilfe des Klägers um die sogenannte Praxisgebühr gemäß § 12 Abs. 1 Satz  2 Halbs. 1 der Beihilfevorschriften der Beklagten zu kürzen.

7 1. Zwar hat die Beklagte auf der Grundlage des § 80 BBG i.d.F. des Art. 1 DNeuG vom 5. Februar 2009 (BGBl I S. 160) mit Wirkung vom 14. Februar 2009 eine für die Beamten des Bundes geltende Bundesbeihilfeverordnung (BBhV) erlassen (BGBl I S. 326), doch ist für die rechtliche Beurteilung beihilferechtlicher Streitigkeiten grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen maßgeblich, für die Beihilfen verlangt werden (Urteil vom 15. Dezember 2005 - BVerwG 2 C 35.04 - BVerwGE 125, 21 = Buchholz 270 § 5 BhV Nr. 17 m.w.N.). Danach finden vorliegend die Vorschriften Anwendung, die während der drei ersten Quartale des Jahres 2004 Gültigkeit besaßen. Das ist auf der Grundlage des § 79 BBG a.F. die Regelung in § 12 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 der Beihilfevorschriften des Bundes (BhV) i.d.F. vom 1. November 2001 (GMBl S. 919), zuletzt geändert durch Art. 1 der 28. Änderungsvorschrift - ÄndVwV - vom 30. Januar 2004 (GMBl S. 379). Nach dieser Bestimmung mindert sich die Beihilfe um einen Betrag von 10 € je Kalendervierteljahr je Beihilfeberechtigten und je berücksichtigungsfähigen Angehörigen für jede - bezogen auf das Kalendervierteljahr - erste Inanspruchnahme ambulanter ärztlicher, zahnärztlicher oder psychotherapeutischer Leistungen, sofern - wie hier - kein Fall von § 12 Abs. 1 Satz 3 BhV gegeben ist (§ 12 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 BhV).

8 2. § 12 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 BhV verstößt als Kürzungsregelung gegen den Vorbehalt des Gesetzes und ist deshalb nichtig. Er ist aber übergangsweise noch anzuwenden (vgl. zuletzt Urteil vom 26. Juni 2008 - BVerwG 2 C 2.07 - BVerwGE 131, 234 <Rn. 9> = Buchholz 270 § 6 BhV Nr. 17), weil er im Übrigen mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Nicht haltbar ist die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts, die pauschale Kürzungsregelung des § 12 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 BhV verstoße gegen die Alimentations- und Fürsorgepflicht des Dienstherrn. Wie der Senat mehrfach entschieden hat, verlangen die hergebrachten Grundsätze im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG weder, dass Aufwendungen der Beamten in Krankheitsfällen durch ergänzende Beihilfen vollständig gedeckt werden, noch, dass die von der Beihilfe nicht erfassten Kosten in vollem Umfang versicherbar sind (vgl. zuletzt Urteil vom 26. Juni 2008 a.a.O. Rn. 13 ff. m.w.N.). Ein darauf gerichtetes Vertrauen genießt keinen verfassungsrechtlichen Schutz.

9 a) Der Alimentationsgrundsatz verpflichtet den Dienstherrn, Beamten und ihren Familien Mittel für einen Lebensunterhalt zur Verfügung zu stellen, der nach dem Dienstrang, der mit dem Amt verbundenen Verantwortung und der Bedeutung des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit angemessen ist. Die Beamten müssen über ein Nettoeinkommen verfügen, das ihre rechtliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit gewährleistet und über die Befriedigung der Grundbedürfnisse hinaus einen dem Amt angemessenen Lebenszuschnitt ermöglicht (BVerfG, Urteile vom 27. September 2005 - 2 BvR 1387/02 - BVerfGE 114, 258 <287 f.> und vom 6. März 2007 - 2 BvR 556/04 - BVerfGE 117, 330 <351>; stRspr). Die Pflicht zur Gewährung eines amtsangemessenen Lebensunterhalts erstreckt sich auch auf besondere Belastungssituationen wie Krankheit oder Pflegebedürftigkeit, die mit der Regelalimentation finanziell nicht zu bewältigen sind.

10 Allerdings genießt das gegenwärtige „Mischsystem“ von Alimentation und ergänzender, anlassbezogener Beihilfe keinen verfassungsrechtlichen Bestandsschutz. Der einfache Gesetzgeber unterliegt hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Beihilfe daher keinen Bindungen durch das Alimentationsprinzip. Stellen Absenkungen des Beihilfestandards im Zusammenwirken mit anderen Besoldungseinschnitten die Amtsangemessenheit der Alimentation in Frage, so ist verfassungsrechtlich nicht die Anpassung der Beihilfen, sondern eine entsprechende Korrektur der Besoldungsgesetze geboten, die das Alimentationsprinzip konkretisieren. Die Kürzungsregelung des § 12 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 BhV wäre daher auch dann nicht unwirksam oder unanwendbar, wenn die Alimentation unter das verfassungsrechtlich gebotene Niveau sinken sollte. In diesem Fall muss der Gesetzgeber entscheiden, auf welche Weise er sicherstellt, dass das jährliche Nettoeinkommen der Beamten dem Alimentationsprinzip entspricht. Er kann sowohl die Dienstbezüge erhöhen als auch Besoldungseinschnitte rückgängig machen (Urteil vom 20. März 2008 - BVerwG 2 C 49.07 - BVerwGE 131, 20 <Rn. 21 ff.> = Buchholz 11 Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 94 m.w.N.). Demzufolge stellen sich die vom Berufungsgericht aufgeworfenen Fragen zu den Auswirkungen der streitigen Kürzungsregelung im Gesamtgefüge von Eigenvorsorge, Beihilfe und verfügbarer Alimentation nicht.

11 b) § 12 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 BhV verstößt auch nicht gegen das verfassungsrechtliche Fürsorgeprinzip. Dieser hergebrachte Grundsatz im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG fordert, dass der Dienstherr den amtsangemessenen Lebensunterhalt der Beamten und ihrer Familien auch in besonderen Belastungssituationen wie Krankheit oder Pflegebedürftigkeit sicherstellt. Er muss dafür Sorge tragen, dass Beamte in diesen Lebenslagen nicht mit erheblichen finanziellen Aufwendungen belastet bleiben, die sie nicht mehr in zumutbarer Weise aus ihrer Alimentation bestreiten können (stRspr, vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 7. November 2002 - 2 BvR 1053/98 - BVerfGE 106, 225 <233>; Kammerbeschluss vom 2. Oktober 2007 - 2 BvR 1715/03 - DVBl 2007, 1493 <1494>; BVerwG, Urteile vom 20. März 2008 a.a.O. Rn. 20 und vom 26. Juni 2008 a.a.O. Rn. 16 ff. jeweils m.w.N.). Dies ist ebenfalls auf der Grundlage des gegenwärtig praktizierten „Mischsystems“ zu beurteilen.

12 Die verfassungsrechtliche Fürsorgepflicht verlangt allerdings weder, dass Aufwendungen der Beamten in Krankheitsfällen durch Leistungen einer beihilfekonformen Krankenversicherung und ergänzende Beihilfen vollständig gedeckt werden, noch, dass die von der Beihilfe nicht erfassten Kosten in vollem Umfang versicherbar sind (stRspr, vgl. zuletzt Urteil vom 26. Juni 2008 a.a.O. Rn. 13 f. m.w.N.). Der Dienstherr ist durch die Fürsorgepflicht in seinem von Art. 33 Abs. 5 GG erfassten Kernbereich daher grundsätzlich nicht gehindert, im Rahmen der nach medizinischer Einschätzung behandlungsbedürftigen Leiden Unterschiede zu machen und die Erstattung von Behandlungskosten aus triftigen Gründen zu beschränken oder auszuschließen. Er muss zwar eine medizinisch zweckmäßige und ausreichende Versorgung im Krankheitsfall gewährleisten. Das bedeutet jedoch nicht, dass er die Aufwendungen eines medizinisch notwendigen Arzneimittels in jedem Fall in voller Höhe erstatten muss. Die pauschale Kürzung der Beihilfe nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 BhV kann unter der Geltung des gegenwärtig praktizierten „Mischsystems“ zwar dazu führen, dass in Einzelfällen die finanziellen Möglichkeiten des Beamten überfordert werden. Solche Folgen können etwa bei chronischen Erkrankungen oder bei kinderreichen Beamtenfamilien auftreten. Für derartige Fallgestaltungen muss der Dienstherr normative Vorkehrungen treffen, damit dem Beamten nicht erhebliche Aufwendungen verbleiben, die im Hinblick auf die Höhe der Alimentation nicht mehr zumutbar sind. Das ist jedoch mit der Härtefallregelung des § 12 Abs. 2 BhV geschehen.

13 Gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 BhV sind Beträge nach Abs. 1, mithin auch der hier streitige Eigenbehalt nach Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1, innerhalb eines Kalenderjahres auf Antrag nicht mehr abzuziehen, soweit sie für den Beihilfeberechtigten und seine berücksichtigungsfähigen Angehörigen zusammen mit anderen Beihilfekürzungen und -einschränkungen die Belastungsgrenze überschreiten. Diese Grenze beträgt grundsätzlich 2 % der bereinigten Dienst- oder Versorgungsbezüge (§ 12 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a i.V.m. § 9 Abs. 7 Satz 5 BhV) und im Falle chronischer Erkrankungen 1 %. Diese Belastungsgrenzen sind zumutbar (Urteil vom 26. Juni 2008 a.a.O. Rn. 22).

14 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.