Beschluss vom 30.08.2023 -
BVerwG 10 C 10.23ECLI:DE:BVerwG:2023:300823B10C10.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 30.08.2023 - 10 C 10.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:300823B10C10.23.0]

Beschluss

BVerwG 10 C 10.23

  • VG Berlin - 26.05.2020 - AZ: 2 K 218.17
  • OVG Berlin-Brandenburg - 03.06.2022 - AZ: 12 B 17/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. August 2023
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Dr. Rublack
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Löffelbein und Dr. Wöckel
beschlossen:

  1. Die Anhörungsrüge der Klägerin gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. März 2023 - BVerwG 10 C 2.22 - wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Anhörungsrügeverfahrens.

Gründe

1 Die zulässige Anhörungsrüge der Klägerin ist unbegründet. Das Rügevorbringen lässt nicht erkennen, dass der Senat ihren Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat (§ 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

2 Das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verpflichtet das Gericht, aus seiner Sicht entscheidungserhebliches Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht jedoch dazu, sich deren Rechtsauffassung anzuschließen (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 16. Dezember 2022 - 10 C 6.22 - juris Rn. 2 m. w. N.).

3 Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs umfasst auch die Gelegenheit, sich zu allen Tatsachen und Rechtsfragen zu äußern, die für die Entscheidung erheblich sein können. Zwar korrespondiert mit diesem Äußerungsrecht keine umfassende Hinweispflicht des Gerichts, vielmehr kann regelmäßig erwartet werden, dass die Beteiligten von sich aus erkennen, welche rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte Bedeutung für den Fortgang des Verfahrens und die abschließende Sachentscheidung des Gerichts erlangen können, und entsprechend vortragen. Der Schutz vor einer Überraschungsentscheidung verbietet es aber, dass das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens und unter Berücksichtigung der Vielfalt der vertretenen Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (stRspr, vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <144 f.> und vom 8. November 2022 - 2 BvR 2480/10 u. a. - GRUR 2023, 549 Rn. 156; BVerwG, Beschlüsse vom 18. Juli 2019 - 2 B 7.19 - Buchholz 303 § 295 ZPO Nr. 18 Rn. 17 und vom 27. Januar 2022 - 9 A 20.21 - juris Rn. 3).

4 Danach liegt ein Gehörsverstoß nicht vor. Weder hat der Senat eine unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen, noch entscheidungserheblichen Vortrag der Klägerin nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen.

5 Soweit die Klägerin beanstandet, ein kundiger Prozessbeteiligter habe nicht davon ausgehen müssen, dass der Senat glaube, aus dem Verwaltungsaufwand des thematisch beschränkten und zeitlich unbeschränkten zweiten Hilfsantrags darauf schließen zu können, dass der Verwaltungsaufwand für den thematisch unbeschränkten und zeitlich beschränkten ersten Hilfsantrag identisch oder größer wäre, geht die Klägerin von einer unzutreffenden Annahme aus. Der Senat hat nicht aus dem von der Vorinstanz zum zweiten Hilfsantrag festgestellten Verwaltungsaufwand auf denjenigen hinsichtlich des ersten Hilfsantrags geschlossen. Entscheidend für den Senat war - in sachlicher Anknüpfung an die Feststellungen zum zweiten Hilfsantrag - vielmehr, dass hinsichtlich des ersten Hilfsantrags eine händische Suche in einem äußerst umfangreichen, jedenfalls über nahezu fünf Jahre hinweg entstandenen Aktenbestand einer informationsintensiven Regierungsstelle erforderlich wäre (UA Rn. 23).

6 Auch die in diesem Zusammenhang erhobene Rüge, das Gericht setze sich nicht mit dem Argument der Klägerin auseinander, zum konkreten Verwaltungsaufwand sei nichts vorgetragen und seien keine Feststellungen getroffen worden, führt nicht auf einen Gehörsverstoß. Der Senat hat dargelegt, dass die Maßstäbe dafür, wann von einem unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand auszugehen ist, im Rahmen entsprechender Anwendung des § 7 Abs. 2 Satz 1 IFG nicht anders zu bestimmen sind als in dessen direktem Anwendungsbereich sowie im Rahmen von § 13 Abs. 2 Nr. 2 BArchG (UA Rn. 22). Von einer Unverhältnismäßigkeit des Verwaltungsaufwands ist hiernach jedenfalls dann auszugehen, wenn die Wahrnehmung der vorrangigen Sachaufgaben der Behörde - auch bei zumutbarer Personal- und Sachmittelausstattung sowie unter Ausschöpfung aller organisatorischen Möglichkeiten - erheblich behindert würde (UA Rn. 17). Auf dieser Grundlage ist der Senat davon ausgegangen, dass die erforderliche händische Suche in einem äußerst umfangreichen, jedenfalls über nahezu fünf Jahre hinweg entstandenen Aktenbestand einer informationsintensiven Regierungsstelle das Bundeskanzleramt bei der Wahrnehmung seiner vorrangigen Sachaufgaben erheblich behindern würde (UA Rn. 23). Näherer Feststellungen zur Höhe der Kosten und des Personalaufwandes für die händische Suche, wie sie die Klägerin für erforderlich erachtet, bedurfte es für die nach der Rechtsauffassung des Senats maßgebliche erhebliche Behinderung des Bundeskanzleramts bei der Wahrnehmung vorrangiger Sachaufgaben nicht.

7 Auch soweit sich der Senat mit dem Schutzbereich der Informationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 GG befasst, hat er den entscheidungserheblichen Vortrag der Klägerin zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen. Wie im Urteil ausgeführt, bemisst sich die Eröffnung des Schutzbereichs nach der Auslegung einfachen Rechts (UA Rn. 33), mit der sich der Senat im dortigen Zusammenhang unter Würdigung des Vorbringens der Klägerin ausführlich auseinandersetzt (UA Rn. 25 ff.). Ergibt sich aus der Auslegung einfachen Rechts keine Verpflichtung zur Wiederbeschaffung sich zum Zeitpunkt des Informationszugangsantrags (möglicherweise) im Gewahrsam Dritter befindlicher amtlicher Unterlagen, stellt sich die von der Klägerin aufgeworfene Frage einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Schutzbereichs bei gesetzeswidriger Weggabe amtlicher Informationen nach der Rechtsauffassung des Senats nicht.

8 Ein Gehörsverstoß ist auch hinsichtlich der von der Klägerin in Bezug genommenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht ersichtlich. Der Senat hat maßgeblich darauf abgestellt, dass der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs Anhaltspunkte für eine aus Art. 10 EMRK folgende Verpflichtung staatlicher Stellen zur Wiederbeschaffung von dort vor der Beantragung eines Informationszugangs abhandengekommenen Informationen nicht zu entnehmen sind (UA Rn. 30). Diesbezügliche Anhaltspunkte ergeben sich auch aus den Ausführungen der Klägerin zur Entscheidung der Fünften Sektion des Gerichtshofs vom 10. Juli 2006 - Nr. 19101/03 - SDRUŽENÍ JIHOČESKÉ MATKY gegen Tschechien - nicht.

9 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.