Beschluss vom 04.01.2022 -
BVerwG 1 B 40.21ECLI:DE:BVerwG:2022:040122B1B40.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 04.01.2022 - 1 B 40.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:040122B1B40.21.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 40.21

  • VG Osnabrück - 10.09.2018 - AZ: VG 7 A 232/16
  • OVG Lüneburg - 22.04.2021 - AZ: OVG 2 LB 408/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. Januar 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. April 2021 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

2 1. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

3 1.1 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung

4 bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m.w.N.).

5 1.2. Nach diesen Grundsätzen ist die Revision nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage zuzulassen,
"Ist im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH vom 19.11.2020 - C-238/29 - mit einer starken Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes im Sinne des Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU an einen der Verfolgungsgründe aus Art. 10 RL 2011/95/EU anknüpfen entweder hinsichtlich der Überzeugungsbildung gem. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO oder hinsichtlich der Verteilung der Beweislast im Bereich des Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ein von der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG schutzorientiert ein abweichender Maßstab dahingehend anzuwenden, dass eine Versagung der Flüchtlingseigenschaft gegen diese 'starke Vermutung' nur möglich ist, wenn diese nach Überzeugung des Tatrichters vollständig widerlegt ist, verbleibende Zweifel also zur Schutzgewährung führen ('benefit of doubt') bzw. die Last der Nichterweislichkeit oder eines Non-liquet der Beklagten zufällt und ist dieser für den Schutzsuchenden günstigere Maßstab neben der Feststellung der Konnexität auch bei der Feststellung der Gefahr der Verfolgungshandlung und des Bestehens des Verfolgungsgrundes anzulegen?",
weil deren Entscheidungserheblichkeit schon nicht dargelegt ist (§ 133 Abs. 3 VwGO).

6 Das Berufungsgericht hat zwar offengelassen, ob Wehrdienstentziehern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG drohe, weil es an der gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG fehle (UA S. 21), weil nach der aktuellen Erkenntnislage eine Verfolgung wegen einer mit Blick auf die Wehrdienstentziehung zugeschriebenen oppositionellen politischen Haltung (§ 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG) (UA S. 21 bis 27) oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) (UA S. 27 bis 29) nicht zu besorgen sei; auch liege eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Wehrdienstentziehung unter Berücksichtigung des in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG aufgenommenen Regelbeispiels einer Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG nicht vor, weil nach dem aktuellen Stand des Konflikt- bzw. Kriegsgeschehens die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG im Falle des Wehr- bzw. Reservedienstes in der syrischen Armee nicht (mehr) als erfüllt anzusehen seien (UA S. 31 bis 34). Mit dieser, die Entscheidung insoweit selbständig tragenden tatrichterlichen Bewertung setzt sich die Beschwerde nicht auseinander. Die aufgeworfene Grundsatzfrage setzt indes das - vom Berufungsgericht gerade verneinte - Vorliegen einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG als gegeben voraus und bezieht sich allein auf die weitere, die Entscheidung ebenfalls selbständig tragende Erwägung ("unabhängig von den vorstehenden Ausführungen ..."), dass die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG auch deshalb nicht vorlägen, weil es an der erforderlichen Verknüpfung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund fehle (UA S. 34).

7 Unabhängig davon fehlt es auch insoweit an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit, weil das Berufungsgericht die (geänderten) tatsächlichen Verhältnisse (im Ergebnis abweichend von der Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 - 3 B 109.18 -) dahin gewürdigt hat, dass die vom Gerichtshof der Europäischen Union postulierte "starke Vermutung" eines Konnexes von (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund als widerlegt anzusehen sei. Keine andere Beurteilung rechtfertigt daher, dass der Senat mit Beschluss vom 20. Juli 2021 - 1 B 26.21 (1 C 21.21 ) - gegen das vom Berufungsgericht benannte Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zur Klärung der Frage zugelassen hat,
"welche Anforderungen an die Annahme einer 'starken Vermutung' (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - RN. 57) für eine Verknüpfung zwischen der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) genannten Voraussetzungen mit einem der in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 3 i.V.m. § 3b AsylG) genannten Verfolgungsgründe - sowie deren Widerlegung - zu stellen sind und welche Bedeutung einer solchen 'starken Vermutung' im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zukommt."

8 Denn insoweit sind hier nicht Fragen des rechtlichen Maßstabes, sondern der tatrichterlichen Bewertung betroffen.

9 2. Ein Verfahrensfehler, der zur Zulassung der Revision führte (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), ist ebenfalls nicht hinreichend dargelegt (§ 133 Abs. 3 VwGO).

10 2.1 Die Rüge, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO sei verletzt, "weil die richterliche Überzeugungsbildung einschließlich der Sachverhalts- und Beweiswürdigung in nicht unionsrechtskonformer Weise erfolgt" sei, weil das Berufungsgericht im Gegensatz zum Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Notwendigkeit einer besonderen Behandlung genau dieses Sachverhaltes bei der richterlichen Überzeugungsbildung und Beweiswürdigung vor dem Hintergrund des Unionsrechts verkannt habe, legt schon im Ansatz einen Verfahrensfehler nicht dar. Denn Grundsätze der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind in aller Regel revisionsrechtlich dem sachlichen Recht zuzuordnen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 <272>; Beschluss vom 4. Mai 2020 - 1 B 17.20 - juris Rn. 4). Ein einen Verfahrensfehler begründender Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung ("Überzeugungsgrundsatz") im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann ausnahmsweise insbesondere dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (BVerwG, Beschluss vom 25. April 2018 - 1 B 11.18 - juris Rn. 3 m.w.N.; zum Übergehen eines nach der Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserheblichen Akteninhalts oder zur Annahme aktenwidriger Tatsachen sowie denkgesetzwidriger Schlussfolgerungen s.a. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 AufenthG Nr. 58 Rn. 20, und vom 5. Oktober 2021 - 1 B 63.21 - juris Rn. 9). Dies wird mit der Rüge eines falschen Prüfungsmaßstabes und der damit vorgelagerten Rechtsfrage, welcher Maßstab zugrunde zu legen sei, nicht geltend gemacht.

11 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat zudem in der von der Beschwerde herangezogenen Entscheidung nicht mit Bindungswirkung - und unabhängig von einer Veränderung der tatsächlichen Verfolgungslage - für die nationalen Gerichte festgestellt, dass Wehrdienstentzieher bei Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach Art und Schwere eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung zu besorgen haben. Er hat vielmehr die rechtlichen Maßstäbe entfaltet, nach denen die Gefahr von Verfolgungshandlungen sowie die Verknüpfung mit flüchtlingsrechtlich erheblichen Verfolgungsgründen zu beurteilen ist, hat insoweit auch eine starke Vermutung dafür gesehen, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Gründe in Zusammenhang stehe, dann aber betont, dass es Sache der zuständigen nationalen Behörden ist, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen. Eine tatsächliche Bindung der nationalen Behörden und Gerichte an eine bestimmte tatrichterliche Bewertung der Verfolgungssituation enthält dies nicht (BVerwG, Beschluss vom 10. März 2021 - 1 B 2.21 - NVwZ-RR 2021, 687).

12 2.2 Unabhängig davon bezöge sich dieser Verfahrensfehler - seine im Übrigen hinreichend substantiierte Bezeichnung unterstellt - ebenfalls auf die Frage eines Zusammenhanges von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund und nicht auf die selbständig tragende Verneinung einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG.

13 3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

14 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.