Beschluss vom 07.02.2023 -
BVerwG 1 B 58.22ECLI:DE:BVerwG:2023:070223B1B58.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 07.02.2023 - 1 B 58.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:070223B1B58.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 58.22

  • VG Berlin - 28.09.2017 - AZ: 19 K 585.17 A
  • OVG Berlin-Brandenburg - 07.02.2022 - AZ: 3 B 53.18

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. Februar 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 7. Februar 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Antrag des Klägers auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt I., B., wird abgelehnt.

Gründe

1 Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

2 1. Die Revision ist nicht wegen der allein geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Die von der Beschwerde erhobenen Rügen gegen die Verletzung des Grundsatzes der richterlichen Überzeugungsbildung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO greifen nicht durch.

3 a) Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Einhaltung der sich daraus ergebenden verfahrensmäßigen Verpflichtungen ist nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter eine aus seiner Sicht fehlerhafte Verwertung des vorliegenden Tatsachenmaterials rügt, aus dem er andere Schlüsse ziehen will als das angefochtene Urteil. Denn damit wird ein (vermeintlicher) Fehler in der Beweiswürdigung angesprochen. Solche Fehler sind revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen und können einen Verfahrensmangel i. S. v. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO deshalb grundsätzlich nicht begründen (BVerwG, Beschluss vom 4. Mai 2020 - 1 B 17.20 - juris Rn. 4).

4 Eine Ausnahme kommt nur bei Mängeln in Betracht, die allein die Tatsachenfeststellung und nicht auch die Subsumtion unter die materiell-rechtliche Norm betreffen. Das kommt bei einer aktenwidrigen, gegen die Denkgesetze verstoßenden oder sonst von objektiver Willkür geprägten Sachverhaltswürdigung in Betracht, etwa bei denkfehlerhaften, aus Gründen der Logik schlechterdings unmöglichen oder sonst willkürlichen Schlussfolgerungen von Indizien auf Haupttatsachen (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 <273 f.>; Beschlüsse vom 6. März 2008 - 7 B 13.08 u. a. - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 54 Rn. 8 und vom 22. Mai 2008 - 9 B 34.07 - Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 65 Rn. 22). Ein Denkfehler in diesem Sinne liegt allerdings nicht bereits dann vor, wenn die tatrichterliche Würdigung auch anders hätte ausfallen können. Denkgesetze werden durch Schlussfolgerungen nur dann verletzt, wenn nach dem gegebenen Sachverhalt nur eine einzige Folgerung gezogen werden kann, jede andere Folgerung aus Gründen der Logik schlechterdings unmöglich ist und das Gericht die allein mögliche Folgerung nicht gezogen hat (BVerwG, Beschlüsse vom 18. Februar 1972 - 8 B 3.72 u. a. - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 62 S. 28 und vom 6. März 2008 - 7 B 13.08 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 54 Rn. 8).

5 b) Dass im Streitfall die Ausführungen des Berufungsgerichts an einem derart qualifizierten Mangel leiden, zeigt die Beschwerdebegründung nicht auf.

6 aa) Das Berufungsgericht hat den Kläger - ohne den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu verletzen - als beachtlich wahrscheinlich vorverfolgt angesehen, weil er seine Inhaftierung durch den Geheimdienst von Juli bis Oktober 2012 in Damaskus und die dabei erlittene Folter durch verschiedene syrische Sicherheitsbehörden glaubhaft geschildert habe. Auch dass er nach seiner ersten Ausreise aus Syrien nach Jordanien im Jahr 2013 und seiner zwischenzeitlichen Rückkehr und Hochzeit im syrischen Dara'a (2014) im Mai 2015 telefonisch zum Militärgericht nach Damaskus vorgeladen worden sei, hat das Berufungsgericht nach dem Vortrag des Klägers nicht nur für nicht ausgeschlossen, sondern für plausibel gehalten. Seine Zweifel am zunächst als "für möglicherweise befremdlich" eingeordneten Vortrag des Klägers hat das Berufungsgericht überwunden und sich eine plausible Überzeugung zum Vorliegen einer beachtlich wahrscheinlichen Vorverfolgung gebildet. Darin liegt keine aktenwidrige, gegen die Denkgesetze verstoßende oder sonst von objektiver Willkür geprägte Sachverhaltswürdigung.

7 bb) Auch die Rüge der Beklagten, das Berufungsgericht habe § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt, weil es mit der Annahme, der Kläger sei vorverfolgt aus Dara'a ausgereist, gegen Denkgesetze verstoßen habe, greift nicht durch. Die Beklagte stellt dafür auf Widersprüchlichkeiten im Vorbringen des dreifach - vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, vor dem Verwaltungsgericht und vor dem Berufungsgericht - angehörten Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal in Syrien ab, ohne zu erläutern, welches Denkgesetz durch das Berufungsurteil verletzt sein soll. Ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt nur vor, wenn ein aus Gründen der Logik schlechthin unmöglicher Schluss gezogen wird. Ein - nach Auffassung der Beschwerde - unrichtiger oder fernliegender Schluss genügt hierfür ebenso wenig wie objektiv nicht überzeugende oder sogar unwahrscheinliche Schlussfolgerungen (stRspr, BVerwG, Beschlüsse vom 10. Dezember 2003 - 8 B 154.03 - NVwZ 2004, 627 m. w. N. und vom 27. Juni 2019 - 2 B 7.18 - Buchholz 245 LandesBesR Nr. 21 Rn. 70). Dass das Berufungsgericht dem Kläger die von ihm zuletzt dargestellte Verfolgungsgeschichte geglaubt hat, beruht auf einer tatrichterlichen Würdigung des Einzelfalls, die sich einer revisionsgerichtlichen Prüfung entzieht. Im Übrigen ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen nicht, dass die Beklagte durch einen Beweisantrag oder eine hinreichend bestimmte Beweisanregung im Berufungsverfahren auf eine Beweiserhebung oder die von ihr vermisste weitere Sachverhaltsaufklärung hingewirkt hätte.

8 cc) Schließlich lassen auch die Ausführungen des Berufungsgerichts zur politischen Überzeugung des Klägers - entgegen der Auffassung der Beklagten - keinen Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erkennen. Einen derartigen Verfahrensmangel zeigt die Beschwerde nicht auf. Sie begnügt sich auch insoweit vielmehr damit, ihre Sichtweise an die Stelle derjenigen des Gerichts zu setzen. Dass ein Beteiligter die von ihm in der Beschwerde genannten Umstände naturgemäß anders gewürdigt wissen will, ist zwar nachvollziehbar, begründet aber nicht den behaupteten Verfahrensfehler.

9 2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.

10 3. Prozesskostenhilfe hat vom Senat nicht bewilligt werden können, weil der Kläger die von ihm angekündigte aktuelle Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse dem Senat nicht vorgelegt oder nachgereicht hat (§ 166 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 117 Abs. 2 ZPO).