Beschluss vom 14.04.2023 -
BVerwG 1 B 1.23ECLI:DE:BVerwG:2023:140423B1B1.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 14.04.2023 - 1 B 1.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:140423B1B1.23.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 1.23

  • VG München - 11.03.2021 - AZ: M 10 K 19.1889
  • VGH München - 27.09.2022 - AZ: 10 B 22.263

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 14. April 2023
durch den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 27. September 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 1. Die allein auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

2 1.1 Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortete werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - AuAS 2014, 110 und vom 10. März 2015 - 1 B 7.15 - juris Rn. 3).

3 1.2 Hiernach rechtfertigt die von der Beschwerde (sinngemäß) als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Frage,
ob die Prüfung der Voraussetzungen des gesteigerten Ausweisungsschutzes, einschließlich einer möglichen Unterbrechung der Kontinuität, zum Zeitpunkt der Verlustfeststellung abschließend ist bzw. ob diese Prüfung auf den behördlichen Verlustfeststellungszeitpunkt beschränkt ist oder ob es eine nachträgliche Überprüfungsmöglichkeit geben muss,
nicht die Zulassung der Revision, da diese Frage in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bereits geklärt und damit nicht mehr klärungsbedürftig ist.

4 So hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 17. April 2018 - C-316/16 und C-424/16 [ECLI:​EU:​C:​2018:​256], Vomero - Rn. 84 ff., 95) entschieden, dass für die Frage, ob eine Person ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisungsverfügung im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat und damit in den Genuss des verstärkten Ausweisungsschutzes gemäß Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 229 S. 35) kommen kann, zu dem Zeitpunkt zu beurteilen ist, zu dem die (ursprüngliche) Ausweisungsverfügung anfangs ergeht. Denn nach dem Wortlaut der Vorschrift sind unter den letzten zehn Jahren die zehn Jahre vor der Ausweisungsverfügung zu verstehen, sodass die Voraussetzung des ununterbrochenen zehnjährigen Aufenthalts zum Zeitpunkt des Ergehens der Ausweisungsverfügung zu prüfen ist. Dabei ist für die Frage einer möglichen Diskontinuität des Aufenthalts wegen Abwesenheiten oder auch wegen Zeiträumen der Verbüßung einer Haftstrafe eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt (EuGH, Urteil vom 17. April 2018 - C-316/16 und C-424/16, Vomero - Rn. 68 ff. m. w. N.). Diese Vorgaben beanspruchen auch Geltung für die unionsrechtskonforme Auslegung des hier streitgegenständlichen § 6 Abs. 5 FreizügG/EU.

5 Soweit die Beschwerde hiergegen unter Hinweis auf Randnummer 90 der zitierten Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einwendet, dass dieser die Prüfung nicht unbedingt als abschließend ansehe, verkennt sie, dass sich der Gerichtshof insoweit auf die Gefahrenbeurteilung bezieht, nicht aber auf den Zeitpunkt der Prüfung der Voraussetzungen für einen verstärkten Ausweisungsschutz. Ausdrücklich führt der Gerichtshof hierzu aus, dass diese Auslegung nicht der - anderen - Frage vorgreift, zu welchem Zeitpunkt zu beurteilen ist, ob tatsächlich "Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit" im Sinne des Art. 28 Abs. 1 RL 2004/38/EG, "schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit" im Sinne des Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG oder "zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit" im Sinne des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG gegeben sind, die eine Ausweisung rechtfertigen können (EuGH, Urteil vom 17. April 2018 - C-316/16 und C-424/16, Vomero - Rn. 89). Insoweit obliegt es zwar der Behörde, die die Ausweisungsverfügung anfangs erlässt, diese Beurteilung mit Erlass der Verfügung vorzunehmen und zwar unter Beachtung der materiell-rechtlichen Vorgaben der Art. 27 und 28 RL 2004/38/EG. Dies schließt jedoch nicht aus, dass es sich, wenn sich der konkrete Vollzug dieser Verfügung für eine gewisse Zeit verzögert, als notwendig erweisen kann, erneut und nach dem aktuellen Stand zu beurteilen, ob weiterhin, je nachdem, worum es geht, Gründe oder schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit oder zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit gegeben sind (EuGH, Urteil vom 17. April 2018 - C-316/16 und C-424/16, Vomero - Rn. 90 ff. m. w. N.).

6 Im Anschluss an die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU zwar grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts ist. Insbesondere die Gefahrenbeurteilung hat damit auch Umstände mit in den Blick zu nehmen, die erst nach Erlass der Verfügung eingetreten sind. Etwas anderes gilt aber für Tatbestandsmerkmale, die - wie die Voraussetzungen des gesteigerten Ausweisungsschutzes nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU (Erwerb des Daueraufenthaltsrechts) und § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU (Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet) – nach dem materiellen Recht bereits bei Verfügung der Verlustfeststellung vorliegen müssen (BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2021 - 1 C 60.20 - juris Rn. 15 m. w. N.).

7 Weitergehenden oder neuerlichen Klärungsbedarf in Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung zeigt die Beschwerde nicht auf.

8 2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.