Beschluss vom 14.07.2022 -
BVerwG 2 WDB 5.21ECLI:DE:BVerwG:2022:140722B2WDB5.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 14.07.2022 - 2 WDB 5.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:140722B2WDB5.21.0]

Beschluss

BVerwG 2 WDB 5.21

  • TDG Nord 7. Kammer - 31.05.2021 - AZ: N 7 VL 2/21

In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Burmeister und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Henke
am 14. Juli 2022 beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde der Wehrdisziplinaranwaltschaft wird der Beschluss der Vorsitzenden der 7. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 31. Mai 2021 aufgehoben.
  2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der dem früheren Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen trägt der Bund.

Gründe

I

1 Die Beschwerde richtet sich gegen eine Verfahrenseinstellung.

2 1. Der frühere Soldat leistete von Juli 2010 bis Ende Juni 2019 zuletzt als Stabsunteroffizier Dienst in der Bundeswehr. Die Übergangsbeihilfe wurde ihm ausbezahlt, Übergangsgebührnisse bezog er bis Ende März 2021.

3 2. Die Vorsitzende der 7. Kammer des Truppendienstgerichts Nord hat das gegen ihn geführte disziplinargerichtliche Verfahren mit Beschluss vom 31. Mai 2021 wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt. Dessen Personalakte enthalte weder die Ablichtung einer Ernennungsurkunde über seine Berufung in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit noch ein entsprechendes Empfangsbekenntnis. Auch andere Umstände belegten nicht, dass ihm eine solche Urkunde ausgehändigt worden sei. Dies sei aber Voraussetzung für eine disziplinarische Ahndungsmöglichkeit. Die von der Wehrdisziplinaranwaltschaft vorgetragenen Gründe führten zu keinem anderen Ergebnis. Sie weise lediglich auf übliche Begleitumstände hin, aus denen nicht automatisch der Rückschluss auf die tatsächliche Aushändigung einer solchen Ernennungsurkunde gezogen werden könne.

4 3. Mit ihrer gegen den Beschluss fristgerecht erhobenen Beschwerde vertieft die Wehrdisziplinaranwaltschaft ihre erstinstanzlich vorgetragenen Gründe. Jedenfalls die Gesamtheit der Indizien reiche aus, um die Zweifel an der wirksamen Berufung auszuräumen. Dass die Personalführung, der stellvertretende Bataillonskommandeur bei der Vereidigung, die Gehälter und Gebührnisse auszahlenden Stellen und der Berufsförderungsdienst eine unterbliebene Berufung mehrfach übersehen hätten, sei derart unwahrscheinlich, dass keine vernünftigen Zweifel daran bestünden.

II

5 Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Voraussetzungen für die Einstellung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nach § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO liegen nicht vor, weil kein Verfahrenshindernis besteht (BVerwG, Beschluss vom 16. Dezember 2020 - 2 WDB 7.20 - Buchholz 449 § 41 SG Nr. 2 Rn. 9 m. w. N.).

6 1. Aus § 58 WDO folgt, dass (einige) gerichtliche Disziplinarmaßnahmen nur gegen bestimmte Statusgruppen von Soldaten - nämlich Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit (§ 58 Abs. 1 WDO), gegen Soldaten im Ruhestand und gegen frühere Soldaten, die gemäß § 1 Abs. 3 WDO als Soldaten im Ruhestand gelten (§ 58 Abs. 2 WDO), sowie gegen Soldaten in einem Wehrdienstverhältnis nach dem Reservistinnen- und Reservistengesetz, gegen Angehörige der Reserve und gegen nicht wehrpflichtige frühere Soldaten, die noch zu Dienstleistungen herangezogen werden können (§ 58 Abs. 3 WDO) – zulässig sind. Gehören (frühere) Soldaten keiner dieser Statusgruppen (mehr) an, fehlt es für die Durchführung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens an einer Verfahrensvoraussetzung mit der Folge, dass es vom Vorsitzenden wegen eines Verfahrenshindernisses gemäß § 108 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1, Abs. 4 WDO einzustellen ist, ohne dass - anders als im Falle der Verfahrenseinstellung nach § 108 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 WDO (BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2022 - 2 WDB 5.22 - Rn. 14 f.) – ein Dienstvergehen festgestellt werden dürfte (BVerwG, Urteil vom 2. Oktober 2013 - 2 WD 33.12 - juris Rn. 32).

7 2. Ein Verfahrenshindernis dieser Art liegt jedoch nicht vor.

8 a) Die Frage nach einem Verfahrenshindernis ist nach den Grundsätzen des Freibeweisverfahrens zu beantworten. Für die Feststellung seiner Voraussetzungen gelten folglich nicht die strengen Anforderungen, die die Wehrdisziplinar- und die Strafprozessordnung an den Beweis bei Schuld- und Sanktionenfragen stellt (§ 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. §§ 244 ff. StPO). Mithin steht es insbesondere in pflichtgemäßem gerichtlichen Ermessen, wie sich das Gericht die Überzeugung von den Voraussetzungen verschafft. Ob der Grundsatz "in dubio pro reo" im vorliegenden Verfahren Anwendung findet (BGH, Urteile vom 28. Juni 1961 - 2 StR 154/61 - BGHSt 16, 164 <166> und vom 31. März 2021 - 2 StR 300/20 - juris Rn. 26), kann dahingestellt bleiben; jedenfalls erfordert dessen Anwendung konkrete tatsächliche Umstände. Bloß theoretische, nur denkgesetzlich mögliche Zweifel reichen nicht aus (BGH, Beschluss vom 30. März 2001 - StB 4, 5/01 - BGHSt 46, 349 <351 f.>).

9 b) Nach Maßgabe dessen begründet das Fehlen einer Ablichtung der Urkunde über die Berufung des früheren Soldaten zwar Zweifel an dessen Begründung, weil ein Wehrdienstverhältnis gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 SG durch Ernennung begründet wird und dies die Aushändigung einer Ernennungsurkunde (§ 41 Abs. 1 Satz 1 SG), also die willentliche Verschaffung des körperlichen Besitzes der Originalurkunde durch die zur Ernennung zuständige Dienststelle an den zu Ernennenden, verlangt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Dezember 2020 - 2 WDB 7.20 - Buchholz 449 § 41 SG Nr. 2 Rn. 11); die sich aus dem Fehlen einer solchen Urkunde ergebenden Zweifel erweisen sich jedoch bei einer Gesamtbetrachtung als theoretisch.

10 c) Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit die Verwertung des Umstands verbietet, dass der frühere Soldat im Rahmen des disziplinargerichtlichen Verfahrens die Aushändigung einer entsprechenden Berufungsurkunde nicht in Abrede gestellt und er damit von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, zu seiner Überführung auch durch Einlassung zu rein verwaltungsrechtlichen Umständen nicht aktiv beitragen zu müssen (BVerfG Kammerbeschluss vom 25. Januar 2022 - 2 BvR 2462/18 - juris Rn. 51 f.); jedenfalls hat er während seiner aktiven Dienstzeit seine Berufung zum Soldaten auf Zeit nicht bestritten, obwohl er dazu ausweislich der ausdrücklich auf den Tag der wirksamen Berufung in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit Bezug nehmenden Mitteilungen über die Dauer seines Dienstverhältnisses unter Angabe des Status "Soldat auf Zeit" (vom 24. November 2010, 27. Januar 2012 und 26. November 2012) sowie anlässlich der ihm 2019 ausgehändigten Wehrdienstzeitbescheinigung mehrfach Anlass gehabt hätte. Hinzu tritt, dass er aktenkundig am 6. Juli 2010 vereidigt worden ist und dies seine vorherige Ernennung zum Soldaten auf Zeit voraussetzt. Anhaltspunkte dafür, dass diese Abfolge nicht gewahrt wurde, liegen nicht vor, sodass von einer nach Gesetz und Recht vorgenommenen Berufungshandlung auszugehen ist.

11 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 139 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2, § 140 Abs. 3 Satz 3 WDO. Es wäre nach den Gesamtumständen unbillig, den früheren Soldaten mit den Kosten des Rechtsmittels und den ihm im Rechtsmittelverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen zu belasten (BVerwG, Beschluss vom 16. Dezember 2020 - 2 WDB 7.20 - juris Rn. 22).