Beschluss vom 15.08.2023 -
BVerwG 1 B 3.23ECLI:DE:BVerwG:2023:150823B1B3.23.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 15.08.2023 - 1 B 3.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:150823B1B3.23.0]
Beschluss
BVerwG 1 B 3.23
- VG Köln - 23.10.2018 - AZ: 7 K 565/15
- OVG Münster - 24.10.2022 - AZ: 11 A 4916/18
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. August 2023
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und Dollinger und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:
- Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Oktober 2022 wird zurückgewiesen.
- Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
- Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5 000 € festgesetzt.
Gründe
1 Die auf einen Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (1.) und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (2.) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
2 1. Ein Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (stRspr, BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14 f. und vom 15. Juli 2022 - 4 B 32.21 - juris Rn. 18). Das Bezeichnungserfordernis schließt die Darlegung der Entscheidungserheblichkeit ein (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Dezember 2021 - 1 B 62.21 - juris Rn. 2).
3 Die von der Beschwerde erhobene Rüge eines Verstoßes gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör greift nicht durch. Im gerichtlichen Verfahren gewährleisten Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO den Beteiligten das Recht, sich vor der Entscheidung zu allen dafür erheblichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen zu äußern. Rechtlich erhebliches Vorbringen der Beteiligten muss das Gericht zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen (stRspr, vgl. BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205 <216>). Der Schutz vor einer Überraschungsentscheidung verlangt dabei, dass das Gericht nicht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <144 f.> sowie Kammerbeschluss vom 15. Februar 2011 - 1 BvR 980/10 - NVwZ-RR 2011, 460 Rn. 13 m. w. N.).
4 Gemessen daran liegt eine entscheidungserhebliche Verletzung des Rechts des Klägers auf rechtliches Gehör nicht vor. Der vom Oberverwaltungsgericht schließlich im Berufungsurteil eingenommene Rechtsstandpunkt zu der Frage, an wen die Widerrufsentscheidung des Bundesverwaltungsamtes betreffend seine Einbeziehung in den seiner Mutter nach § 26 BVFG erteilten Aufnahmebescheid zu adressieren gewesen sei - an den Kläger selbst oder an seine Mutter - ist während des gerichtlichen Verfahrens zwischen den Beteiligten kontrovers diskutiert worden. Dies ergibt sich insbesondere aus dem Schriftwechsel zwischen der Beklagten (Schriftsatz vom 27. Oktober 2017, Bl. 138 f. der Gerichtsakte) und dem Bevollmächtigten des Klägers vom 7. November 2017 (Bl. 141 f. der Gerichtsakte) im erstinstanzlichen Verfahren und den Entscheidungsgründen im Urteil des Verwaltungsgerichts vom 23. Oktober 2018 (Bl. 207 f. der Gerichtsakte). Diese Diskussion ist im zweitinstanzlichen Verfahren fortgeführt worden (Schriftsatz der Beklagten vom 23. Januar 2020, Bl. 276 der Gerichtsakte). Mit einer obergerichtlichen Entscheidung der Frage, an wen der Widerrufsbescheid zu adressieren ist, hat der Kläger mithin rechnen müssen. Für eine Überraschungsentscheidung ist nichts ersichtlich.
5 Der Umstand, dass das Oberverwaltungsgericht an seiner in dem auf die Beschwerde des Klägers ergangenen Prozesskostenhilfebeschluss für das erstinstanzliche Verfahren vom 26. Juli 2017 (Beiheft Prozesskostenhilfe Bl. 13 f.) geäußerten - damals abweichenden - Rechtsauffassung nicht festgehalten hat, begründet keine Gehörsverletzung. Das Gericht entscheidet in der Hauptsache ohne Bindung an seine vorangegangene Beurteilung im Eilverfahren oder Prozesskostenhilfeverfahren anhand anderer Prüfungsmaßstäbe (vgl. für das Eilverfahren: BVerwG, Beschluss vom 15. Oktober 2020 - 4 BN 8.20 - BeckRS 2020, 29950 Rn. 8 und für das Prozesskostenhilfeverfahren: BVerfG, Kammerbeschluss vom 5. Dezember 2018 - 2 BvR 2257/17 - BeckRS 2018, 33439 Rn. 18). Als bloßes Nebenverfahren, das lediglich der Vorbereitung des Hauptsacheverfahrens dient, darf das Prozesskostenhilfeverfahren das Hauptsacheverfahren nicht vorwegnehmen oder an dessen Stelle treten (BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. Oktober 2019 - 2 BvR 1813/18 - NJW 2020, 534 Rn. 26). Deshalb kommt es für die Beurteilung hinreichender Erfolgsaussichten bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe auf die Auffassung des verständigen, unbemittelten Rechtssuchenden im Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags und damit auf eine ex-ante-Betrachtung an (BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. August 2018 - 2 BvR 2647/17 - NVwZ-RR 2018, 873 Rn. 19). Da sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung des Spruchkörpers ergibt und angesichts des Umstands, dass die Frage der Rechtmäßigkeit der Adressierung des Widerrufsbescheids - wie dargestellt - zwischen den Beteiligten während des Verfahrens fortlaufend diskutiert worden ist, ist das Oberverwaltungsgericht schließlich auch nicht verpflichtet gewesen, die Beteiligten vorab auf seine nunmehrige, von der Entscheidung im Prozesskostenhilfeverfahren abweichenden Rechtsauffassung zur Adressierungsfrage hinzuweisen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1976 - 2 C 26.74 - Buchholz 237.4 § 35 HmbBG Nr. 1 S. 16 und Beschlüsse vom 26. Juni 1998 - 4 B 19.98 - juris Rn. 5 sowie vom 15. Oktober 2020 - 4 BN 8.20 - BeckRS 2020, 29950 Rn. 8).
6 2. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m. w. N.).
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Nach diesen Grundsätzen ist die Revision nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Frage zuzulassen,
ob das Gericht bei der "Verwertung eines ausländischen Strafurteiles im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens andere Erkenntnisquellen außer das strafrechtliche Urteil selbst (z.B. eine Anhörung des Klägers oder eine Einvernahme von Zeugen) generell und von vornherein außer Acht lassen" kann,
weil sie - soweit sie abstrakt klärungsfähig ist - keine entscheidungserhebliche Rechtsfrage erkennen lässt. Denn die Beschwerde enthält keine Erwägungen zu der Beurteilung, inwiefern das Gericht bei Zugrundelegung anderer Erkenntnisquellen zu einer anderen Bewertung des festzustellenden Sachverhalts gelangt wäre.
8 Auf welche Erkenntnisquellen (Zeugen, Anhörung u. a.) im tatrichterlichen Verfahren im Einzelnen zurückzugreifen ist, ist im Übrigen eine revisionsgerichtlich grundsätzlich nicht weiter abstrakt klärungsfähige Frage des Einzelfalls. Die als Grundsatzrüge gekleidete Frage, stellt sich insoweit revisionsrechtlich betrachtet als verkappte Aufklärungsrüge nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO dar. Die Aufklärungsrüge ist indes kein Mittel, um Versäumnisse eines anwaltlich vertretenen Beteiligten in der Tatsacheninstanz zu kompensieren, vor allem wenn er es - wie hier - in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht unterlassen hat, einen Beweisantrag zu stellen (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 1. März 2023 - 2 B 33.22 - juris Rn. 20 m. w. N. der Rspr).
9 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.