Beschluss vom 17.05.2022 -
BVerwG 1 B 44.22ECLI:DE:BVerwG:2022:170522B1B44.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 17.05.2022 - 1 B 44.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:170522B1B44.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 44.22

  • VG München - 06.12.2019 - AZ: M 32 K 19.31707
  • VGH München - 24.01.2022 - AZ: 10 B 20.30598

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Mai 2022
durch den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.
  2. Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Januar 2022 wird verworfen.
  3. Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 1. Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wird abgelehnt, weil die Rechtsverfolgung - wie sich aus den nachstehenden Gründen ergibt - keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 und § 121 Abs. 1 ZPO).

2 2. Die allein auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

3 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m.w.N.). Die Darlegung muss

4 sich auch auf die Entscheidungserheblichkeit des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrunds erstrecken. Diesen Darlegungsanforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.

5 a) Ohne Erfolg bleibt die als rechtsgrundsätzlich aufgeworfene Frage,
"ob in Fällen vermeintlicher Widersprüche eines Asylbewerbers, dessen Sachvortrag sowohl beim Bundesamt als auch im Gerichtsverfahren vor dem Verwaltungsgericht jeweils von einem Dolmetscher übersetzt worden ist, diesem noch in der mündlichen Verhandlung ein richterlicher Hinweis zu den vermeintlichen Widersprüchen erteilt und Gelegenheit zu deren Auflösung gegeben werden muss, um Missverständnisse bei der Aufnahme des Sachvortrages bzw. Übertragungsfehler durch den Dolmetscher auszuschließen".

6 In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die tatrichterliche Würdigung des individuellen Vorbringens eines Asylbewerbers maßgeblich von der Glaubhaftigkeit der von ihm geschilderten Tatsachen und der Glaubwürdigkeit seiner Person abhängt, die das Tatsachengericht regelmäßig nur auf der Grundlage einer persönlichen Anhörung des Asylbewerbers wird beurteilen können. Im Rahmen der daher regelmäßig in der mündlichen Verhandlung durchzuführenden persönlichen Anhörung des Asylbewerbers (§ 96 Abs. 1 VwGO) wird das Tatsachengericht Unklarheiten, Unstimmigkeiten oder Widersprüchlichkeiten in dessen Vortrag durch direkte Nachfrage nachzugehen und sie so aufzuklären oder weiter aufzudecken haben. Zwar ist es in erster Linie Sache des Asylbewerbers und ihm in § 15 AsylG auch ausdrücklich auferlegt, diejenigen Tatsachen in schlüssiger Form vorzutragen, die seine Furcht vor Verfolgung, die Gefahr eines ihm drohenden ernsthaften Schadens oder ein nationales Abschiebungsverbot begründen. Das Tatsachengericht ist grundsätzlich nicht gehalten, den Asylbewerber vorab auf mögliche Ungereimtheiten und Widersprüche in seinem Vorbringen hinzuweisen. Gleichwohl können sich dem Tatsachengericht im Rahmen der ihm obliegenden Sachaufklärungs- und Hinweispflicht (§ 86 Abs. 1 und 3 VwGO) im Einzelfall entsprechende Rückfragen, insbesondere auch zur weiteren Substantiierung des Verfolgungsvortrags, bei der persönlichen Anhörung des Asylbewerbers aufdrängen (BVerwG, Beschluss vom 10. Mai 2002 - 1 B 392.01 - juris Rn. 5 m.w.N.).

7 Weder setzt sich die Beschwerdebegründung mit dieser Rechtsprechung auseinander noch zeigt sie weitergehenden fallübergreifenden Klärungsbedarf auf.

8 b) Keiner rechtsgrundsätzlichen Klärung bedarf auch die Frage,
"ob im Falle der offensichtlichen Beweisnot eines asylsuchenden Flüchtlings die Anforderungen an die Aufklärung des Gerichts im Rahmen der vom Kläger geschuldeten Glaubhaftmachung dazu führen, dass vermeintlich widersprüchliche Angaben des jeweiligen Asylantragstellers beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einerseits und dem entscheidenden Gericht andererseits ohne entsprechende gerichtliche Aufklärungsbemühungen, insbesondere unter Beiziehung der von der Aussagepsychologie ermittelten Realitätskriterien und Lügensignale, nicht zur Bewertung der Aussage als unglaubwürdig führen dürfen".

9 In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens und die Glaubwürdigkeit der Person eines Prozessbeteiligten zum Wesen der richterlichen Rechtsfindung, vor allem der freien Beweiswürdigung gehört. Daher ist das Tatsachengericht selbst in schwierigen Fällen berechtigt und verpflichtet, den Beweiswert einer Aussage selbst zu würdigen. Es hat in eigener Verantwortung festzustellen, ob der Asylbewerber und etwa gehörte Zeugen glaubwürdig und ihre Darlegungen glaubhaft sind. Ob es sich dabei der sachverständigen Hilfe insbesondere eines in Bezug auf die Aussagepsychologie Fachkundigen bedient, hat es nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. In aller Regel wird kein Ermessensfehler vorliegen, wenn es sich die zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung notwendige Sachkunde selbst zutraut und auf die Hinzuziehung etwa eines Aussagepsychologen verzichtet. Etwas anderes wird nur dann gelten können, wenn im Verfahren besondere Umstände in der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen hervortreten, die in erheblicher Weise von den Normalfällen abweichen und es deshalb geboten erscheinen lassen können, die Hilfe eines Sachverständigen in Anspruch zu nehmen (BVerwG, Beschlüsse vom 12. Mai 1999 - 9 B 264.99 - juris Rn. 4, vom 7. Juli 1999 - 9 B 401.99 - juris Rn. 4 und vom 17. September 2003 - 1 B 471.02 - juris).

10 Auch mit dieser Rechtsprechung setzt sich die Beschwerdebegründung nicht auseinander. Ein weitergehender abstrakter Klärungsbedarf lässt sich ihr nicht entnehmen.

11 c) Ebenso wenig ist die Revision zuzulassen hinsichtlich der Fragen,

  • "ob die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria zu einem Abschiebungsverbot auf Grund schlechter humanitärer Verhältnisse führt und als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren ist, wenn zu der ohnehin schon katastrophalen wirtschaftlichen Situation weitere erschwerende Umstände, wie etwa die Corona-Pandemie, hinzukommen",

  • "ob ein außerhalb Nigerias - hier Spanien - geborenes weibliches Kleinkind, das zusammen mit seiner Mutter der Volksgruppe der Edo/Bini angehört, bei einer Rückkehr nach Nigeria auch gegen ausdrücklichen Willen seiner Mutter Genitalbeschneidung zu befürchten hat" und

  • "ob in Nigeria ausreichende medizinische Behandlungsmöglichkeiten einschließlich etwaig erforderlicher Medikamente verfügbar sind".

12 Für die Zulassung der Revision reicht, anders als für die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO/§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG (BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 - BVerwGE 70, 24 <26>), eine Tatsachenfrage von grundsätzlicher Bedeutung nicht aus (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 14. September 2020 - 1 B 38.20 - juris). Die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht hingegen hinsichtlich der richterlichen Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen; auch der Umstand, dass das Ergebnis der zur Feststellung und Würdigung des Tatsachenstoffes berufenen Instanzgerichte voneinander abweicht oder für eine Vielzahl von Verfahren von Bedeutung ist, lässt für sich allein nach geltendem Revisionszulassungsrecht eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu. Der Gesetzgeber hat insoweit bislang auch für das gerichtliche Asylverfahren an den allgemeinen Grundsätzen des Revisionsrechts festgehalten und für das Bundesverwaltungsgericht keine Befugnis eröffnet, in Bezug auf Tatsachen(würdigungs)fragen von grundsätzlicher Bedeutung "Länderleitentscheidungen", wie sie etwa das britische Prozessrecht kennt, zu treffen (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 24. April 2017 - 1 B 70.17 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 68 Rn. 4, vom 6. Mai 2020 - 1 B 20.20 - juris Rn. 4 und vom 28. März 2022 - 1 B 9.22 - juris Rn. 23).

13 d) Keinen Erfolg hat die Beschwerde schließlich hinsichtlich der verschiedenen in Bezug auf die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes nach § 3e AsylG als rechtsgrundsätzlich aufgeworfenen Fragen (S. 9 f. der Beschwerdebegründung).

14 Für die Darlegung der Grundsatzbedeutung genügt nicht allein die Benennung einer Rechtsfrage in Verbindung mit der Behauptung, diese Rechtsfrage sei von grundsätzlicher Bedeutung. Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen die Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m.w.N.). Eine entsprechende substantiierte Auseinandersetzung leistet die Beschwerdebegründung nicht.

15 3. Verfahrensrügen im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO hat die Beschwerde ausdrücklich nicht erhoben.

16 Dessen ungeachtet genügte den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO an die Darlegung eines Gehörsverstoßes das Vorbringen im Rahmen der Grundsatzrüge nicht, der Verwaltungsgerichtshof habe die Klägerin zu 1. in ihrem rechtlichen Gehör verletzt, indem er es unterlassen habe, sie auf den vermeintlichen Widerspruch zwischen der im erstinstanzlichen Urteil wiedergegebenen Angabe, ihre Mutter habe sie aufgefordert zu fliehen, zu dem in der Niederschrift über ihre persönliche Anhörung durch das Bundesamt wiedergegebenen Vortrag, ihre Mutter habe sie "versteckt", hinzuweisen und ihr Gelegenheit zu geben, zu den vermeintlichen Abweichungen oder Widersprüchen noch in der Berufungsverhandlung Stellung zu nehmen. Der Verwaltungsgerichtshof ist nicht gehalten gewesen, die Klägerin zu 1. vorab auf einen möglichen Widerspruch zwischen ihrer Aussage in der Berufungsverhandlung und ihrem Vorbringen gegenüber dem Bundesamt hinzuweisen, weil bereits das Verwaltungsgericht die Angabe, dass ihre Mutter sie "an einem anderen Ort" versteckt habe, als nicht nachvollziehbar und unglaubhaft gewürdigt hat, weshalb es der Klägerin oblegen hätte, den Verwaltungsgerichtshof von der Richtigkeit ihrer Darstellung zu überzeugen.

17 Ebenso wenig wird die sinngemäße Rüge, der Verwaltungsgerichtshof habe seine Sachaufklärungspflicht gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt, den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO gerecht. Die Rüge einer solchen Verletzung erfordert, dass unter anderem dargetan wird, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der weiteren Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, durch einen Beweisantrag hingewirkt worden ist und die Ablehnung der Beweiserhebung im Prozessrecht keine Stütze findet, oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 15. Februar 2013 - 8 B 58.12 - ZOV 2013, 40 und vom 12. Juli 2018 - 7 B 15.17 - juris Rn. 23). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerde ersichtlich nicht. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass die durch ihren Prozessbevollmächtigten vertretene Klägerin zu 1. durch einen Beweisantrag oder eine hinreichend bestimmte Beweisanregung im Berufungsverfahren auf eine weitere Beweiserhebung hingewirkt hätte oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Berufungsgericht eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen.

18 4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

19 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.