Beschluss vom 21.12.2021 -
BVerwG 1 B 35.21ECLI:DE:BVerwG:2021:211221B1B35.21.0

Keine Ableitung internationalen Familienschutzes von einem Familienschutzberechtigten

Leitsatz:

Angehörige der Kernfamilie können internationalen Schutz nach § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG nur von einer Person ableiten, welcher die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus nicht ihrerseits kraft Ableitung zuerkannt worden ist.

  • Rechtsquellen
    RL 2011/95/EU Art. 3, Art. 23 Abs. 2
    GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 16a Abs. 1 Satz 1
    AsylG § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3, Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3, Abs. 4 Satz 2, Abs. 5 Satz 2
    VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 1

  • VG Köln - 04.05.2020 - AZ: VG 11 K 4670/19.A
    OVG Münster - 30.04.2021 - AZ: OVG 14 A 1529/20.A

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 21.12.2021 - 1 B 35.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:211221B1B35.21.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 35.21

  • VG Köln - 04.05.2020 - AZ: VG 11 K 4670/19.A
  • OVG Münster - 30.04.2021 - AZ: OVG 14 A 1529/20.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Dezember 2021
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. April 2021 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die Beschwerde, mit der eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht wird, hat keinen Erfolg.

2 1. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - juris Rn. 2 und vom 10. März 2015 - 1 B 7.15 - juris). Ist eine Rechtsfrage höchstrichterlich bereits geklärt, kann sich weiterer Klärungsbedarf ergeben, wenn neue Argumente ins Feld geführt werden können, die das Bundesgericht zu einer Überprüfung seiner Auffassung veranlassen könnten (stRspr, vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 29. September 2010 - 1 BvR 2649/06 - juris Rn. 29, vom 8. Dezember 2010 - 1 BvR 381/10 -, vom 28. April 2011 - 1 BvR 3007/07 - und Beschluss vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 - juris Rn. 231).

3 2. Nach diesen Grundsätzen ist die Revision nicht zuzulassen.

4 2.1 Die von der Beschwerde als rechtsgrundsätzlich aufgeworfene Frage,
"ob der Flüchtlingsstatus nach § 26 Abs. 3, 5 AsylG oder nach den Vorgaben der RL 2011/95/EU des Europ. Parlamentes und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes auch von einem Familienmitglied der Kernfamilie abgeleitet werden kann, das seinen Flüchtlingsstatus wiederum selbst nur in Form der Ableitung von einem anderen Mitglied der Kernfamilie erhalten hat (sog. 'Kettenableitung')",
rechtfertigt die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht, da sie sich auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Interpretation und auf der Grundlage der entstandenen Rechtsprechung ohne Weiteres verneinend beantworten lässt; das umfangreiche Beschwerdevorbringen lässt auch unter Berücksichtigung dessen, dass Art. 19 Abs. 4 GG eine Auslegung und Anwendung des Rechtsmittelzulassungsrechts verbietet, welche die Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage in sachlich nicht mehr zu rechtfertigender Weise und damit objektiv willkürlich verneint und damit den Zugang zur Rechtsmittelinstanz sachwidrig erschwert, seinem sachlichen Gehalt nach keinen (hinreichenden) Grund für eine revisionsgerichtliche Klärung erkennen.

5 a) Gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG ist auf Familienangehörige im Sinne des § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG von international Schutzberechtigten § 26 Abs. 1 bis 4 AsylG entsprechend anzuwenden. Nach § 26 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 AsylG tritt an die Stelle der Asylberechtigung die Flüchtlingseigenschaft. Dementsprechend wird gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1 AsylG dem Ehegatten eines Flüchtlings und nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG dem Elternteil eines minderjährigen ledigen Flüchtlings unter den in dieser Bestimmung im Einzelnen bezeichneten Voraussetzungen auf Antrag die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 26 Abs. 4 Satz 2 AsylG gilt § 26 Abs. 2 und 3 AsylG nicht für Kinder eines Ausländers, der selbst nach § 26 Abs. 2 oder 3 AsylG als Flüchtling anerkannt worden ist. Danach können Angehörige der Kernfamilie Flüchtlingsschutz nur von einer Person ableiten, welcher die Flüchtlingseigenschaft wegen ihr selbst drohender Verfolgung ("aus eigenem Recht") und nicht ihrerseits kraft Ableitung zuerkannt worden ist. Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck des § 26 AsylG bestätigen dieses Ergebnis.

6 Der Begriff des Asylberechtigten im Sinne des § 26 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AsylG stellt in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG darauf ab, dass für die Vermittlung des Familienasyls an einen "Asylberechtigten" anzuknüpfen ist, der "politisch verfolgt wird". Dieser Begriff des Asylberechtigten liegt auch § 26 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 und Satz 2 AsylG zugrunde, soweit darin auf die Person Bezug genommen wird, von der der Schutz abgeleitet wird (so auch bereits zur früheren Rechtslage BVerwG, Urteil vom 16. August 1993 - 9 C 7.93 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 163 S. 390 f.). Dass § 26 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AsylG als Stammberechtigten allein eine Person erfasst, welcher die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus nicht ihrerseits kraft Ableitung zuerkannt worden ist, wird nach dem Sinn und Zweck der Regelung bestätigt, nach dem die Erstreckung der Schutzberechtigung auf die Begründung eines einheitlichen Rechtsstatus innerhalb der Familie und auf die Schaffung eines gesicherten aufenthaltsrechtlichen Status für die engsten Familienangehörigen des Schutzberechtigten zielt. Sie trägt damit der Tatsache Rechnung, dass bei Familienangehörigen häufig eine vergleichbare Bedrohungslage wie bei dem Schutzberechtigten selbst vorliegen wird (in diesem Sinne auch Erwägungsgrund 36 RL 2011/95/EU; vgl. auch BT-Drs. 17/13063 S. 21, BT-Drs. 15/420 S. 109 und BR-Drs. 22/03 S. 260 f.; ferner bereits BVerwG, Urteile vom 25. Juni 1991 - 9 C 48.91 - BVerwGE 88, 326 <330> und vom 16. August 1993 - 9 C 7.93 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 163 S. 391; im Ergebnis ebenso Blechinger, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1. Mai 2021, § 26 AsylG Rn. 56; Epple, in: Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar zum Asylgesetz, Stand Oktober 2021, § 26 AsylG Rn. 77; Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Oktober 2021, § 26 AsylG Rn. 39 f.; Schröder, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 26 AsylVfG Rn. 30; Vogt/Nestler, in: Huber/Mantel, Aufenthaltsgesetz/Asylgesetz, 3. Aufl. 2021, § 26 AsylG Rn. 3; Günther, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1. Oktober 2021, § 26 AsylG Rn. 22 f. und 26; weitergehend Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 26 AsylG Rn. 7).

7 Dass internationaler Familienschutz nur von einem "aus eigenem Recht" Schutzberechtigten abzuleiten ist, bestätigt (lediglich klarstellend) § 26 Abs. 4 Satz 2 AsylG, der an einen "Ausländer" anknüpft, "der selbst nach Absatz 2 oder Absatz 3 als Asylberechtigter anerkannt worden ist". Die Regelung zielt eindeutig darauf, Ableitungsketten auszuschließen, ohne Familienangehörigen des Schutzberechtigten die Möglichkeit zu nehmen, einen Asylantrag auf eigene Verfolgungsgründe zu stützen (BT-Drs. 17/13063 S. 21; in diesem Sinne auch OVG Schleswig, Beschluss vom 17. Februar 2021 - 5 LA 28/21 - juris Rn. 5; im Ergebnis ebenso VGH München, Urteil vom 26. April 2018 - 20 B 18.30332 - juris Rn. 28 f.; OVG Hamburg, Beschluss vom 4. Mai 2021 - 6 Bf 313/20.AZ - InfAuslR 2021, 316 <318 f.>; OVG Münster, Urteil vom 24. Juni 2020 - 14 A 4681/19.A - juris Rn. 42 ff.; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 - 2 A 7/18 - juris Rn. 23).

8 b) Der Ausschluss von "Ableitungsketten" steht auch im Einklang mit Verfassungs- und Unionsrecht.

9 Weder aus Art. 16a Abs. 1 GG noch aus Art. 6 Abs. 1 GG kann abgeleitet werden, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, den Angehörigen von Familienschutzberechtigten, die in ihrer Person keine politische Verfolgung erlitten haben und denen auch keine politische Verfolgung droht, den gleichen Status zuzubilligen wie dem Familienschutzberechtigten selbst (BVerwG, Urteil vom 7. März 1995 - 9 C 389.94 - Buchholz 402.25 § 26 AsylVfG Nr. 2 S. 4 m.w.N.).

10 Unionsrecht gebietet ebenfalls nicht, für das sog. Familienasyl als Stammberechtigte Personen zuzulassen, die nicht aus eigenem Recht schutzberechtigt sind. Die Zuerkennung eines Schutzstatus, wie sie das sog. "Familienasyl" nach nationalem Recht in § 26 AsylG unabhängig von einer Verfolgung in eigener Person vorsieht, ist unionsrechtlich lediglich grundsätzlich nach Art. 3 RL 2011/95/EU möglich, aber nicht unionsrechtlich geboten (BVerwG, Urteil vom 25. November 2021 - 1 C 4.21 -).

11 Allerdings dient § 26 AsylG nach dem Willen des Gesetzgebers auch der unionsrechtlich überschießenden asylrechtlichen Umsetzung der Vorgaben des Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU (BVerwG, Urteil vom 17. November 2020 - 1 C 8.19 -, BVerwGE 170, 326 Rn. 26). Diese Regelung gibt den Mitgliedstaaten allein auf, ihr nationales Recht so anzupassen, dass die in Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU aufgeführten Familienangehörigen des Schutzberechtigten bestimmte Vorteile genießen, die der in Art. 23 Abs. 1 RL 2011/95/EU vorgegebenen Aufrechterhaltung des Familienverbands dienen (EuGH, Urteile vom 4. Oktober 2018 - C-652/16 [ECLI:​EU:​C:​2018:​801], Ahmedbekova und Ahmedbekov - Rn. 67 f. und vom 9. November 2021 - C-91/20 [ECLI:​EU:​C:​2021:​898], LW - Rn. 36; BVerwG, Urteil vom 25. November 2021 - 1 C 4.21 - Rn. 14). § 26 AsylG trifft im Einklang mit Art. 3 RL 2011/95/EU hierfür eine günstigere nationale Regelung zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder als Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat (BVerwG, Urteil vom 25. November 2021 - 1 C 4.21 - Rn. 15 ff.). Der nationale Gesetzgeber kann indes in dem durch Art. 3 RL 2011/95/EU gezogenen Rahmen darüber befinden, unter welchen Voraussetzungen er internationalen Familienschutz - unabhängig von einer Verfolgung "aus eigenem Recht" - zuerkennt, um die Einheit der Kernfamilie des Flüchtlings durch die Herbeiführung der Einheit des schutzrechtlichen Status zu realisieren; er ist namentlich unionsrechtlich (und auch nach Art. 3 Abs. 1 GG) nicht verpflichtet, internationalen Familienschutz unabhängig von einer Verfolgung der stammberechtigten Personen aus eigenem Recht zuzuerkennen. Erfüllt der Familienangehörige diese Voraussetzungen nicht, so ist durch den nationalen Gesetzgeber lediglich im Ergebnis sicherzustellen, dass dieser die in den Art. 24 bis 35 RL 2011/95/EU genannten und in Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU gewährleisteten Leistungen erhält; dies kann auch ohne die Zuerkennung eines (abgeleiteten) Schutzstatus erfolgen. Anderes folgt auch nicht aus der von der Beschwerde herangezogenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Schutz der Kernfamilie international Schutzberechtigter, die zu anderen Normen bzw. Fallkonstellationen ergangen ist und auch sonst keinen greifbaren Anhalt für ein unionsrechtliches Gebot eines voraussetzungslosen Familienasyls enthält.

12 c) Auch die Einwendungen der Beschwerde gegen die obergerichtliche Rechtsprechung, welche einhellig die Gewährung von abgeleitetem Schutz nach § 26 AsylG von einem Familienangehörigen, der selbst nur über § 26 AsylG Schutz erhalten hat, über den ausdrücklich geregelten Fall der Ableitung zugunsten eines Kindes hinaus auch für andere Familienangehörige ausschließt, weisen auch in Ansehung vereinzelter abweichender erstinstanzgerichtlicher Judikate nicht auf - gar neuerlichen oder weitergehenden - revisionsgerichtlichen Klärungsbedarf. Denn sie vernachlässigen die vorstehenden Erkenntnisse; die Berufung auf eine Literaturmeinung (Berlit, Aktuelle Rechtsprechung zum Flüchtlingsrecht 2018/19, NVwZ-Extra 8/2020, 21) gründet auf einer klaren Fehlinterpretation des Rechtsprechungsberichts.

13 2.2 Die Revision ist auch nicht im Hinblick auf die Frage zuzulassen,
"ob es mit Art. 3 des Grundgesetzes bzw. den Vorgaben der RL 2011/95/EU des Europ. Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge und für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes zu vereinbaren ist, dass § 26 Abs. 1 AsylG die Ableitung des Flüchtlingsschutzes für den Ehegatten an eine Frist, dh. die Unverzüglichkeit der Stellung des Schutzgesuchs knüpft, § 26 Abs. 2 AsylG die Ableitung für minderjährige Mitglieder der Kernfamilie hingegen nicht bzw. dass der nationale Gesetzgeber die Ableitung des Flüchtlingsschutzes überhaupt unter die Voraussetzung der Unverzüglichkeit der Antragstellung gestellt hat".

14 Auch diese Frage lässt sich ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung dahingehend beantworten, dass der Gesetzgeber weder verfassungs- noch unionsrechtlich gehindert war, die Gewährung internationalen Familienschutzes in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 AsylG in Bezug auf Ehegatten und Lebenspartner eines Schutzberechtigten - anders in § 26 Abs. 2 AsylG hinsichtlich dessen minderjährigen ledigen Kindes - für den Fall, dass jene nach der Anerkennung des Schutzberechtigten eingereist sind, von der unverzüglichen Stellung des Asylantrags abhängig zu machen.

15 a) Gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG wird dem Ehegatten oder dem Lebenspartner eines Flüchtlings die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er vor der Zuerkennung von dessen Flüchtlingseigenschaft eingereist ist oder er den Asylantrag unverzüglich (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1997 - 9 C 35.96 - BVerwGE 104, 362 <367>) nach der Einreise gestellt hat. § 26 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ist dazu zu dienen bestimmt, den Zusammenhang zu dem Asylverfahren des Stammberechtigten klar- und sicherzustellen (Epple, in: Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar zum Asylgesetz, Stand Oktober 2021, § 26 AsylG Rn. 47; Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Oktober 2021, § 26 AsylG Rn. 53; Günther, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1. Oktober 2021, § 26 AsylG Rn. 11; Marx, Asylgesetz, 10. Aufl. 2019, § 26 Rn. 16). In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. April 1988 - 9 C 28.86 - BVerwGE 79, 244 <245 ff.> und vom 21. Januar 1992 - 9 C 63.91 - BVerwGE 89, 309 <312 f.>), dass der Gesetzgeber berechtigt war, die Wahrung der Familieneinheit über die statusrechtliche Zuerkennung von Familienschutz (anstelle des Aufenthaltsrechts) durch das Erfordernis einer "unverzüglichen Antragstellung" mit dem Erfordernis des Bestehens eines auch zeitlichen Konnexes zu Verfolgung, Flucht und Schutzbegehren des Stammberechtigten zu verknüpfen. Insoweit durfte er es insbesondere dem nachträglich einreisenden Ehegatten überlassen, ob er durch eine unverzügliche Antragstellung sein Begehren, die Familieneinheit auch statusrechtlich herzustellen und die Berufung auf das gemeinsame Verfolgungsschicksal zu betonen, in einen Zusammenhang zu dem Schutzbegehren des Stammberechtigten stellen will.

16 Das Gebot einer auch "unverzüglichen" Antragstellung durch den Ehegatten ist dabei Voraussetzung nur des von einer Verfolgung "aus eigenem Recht" unabhängigen Familienasyls nach § 26 AsylG. Unabhängig davon kann der Ehegatte durch einen i.S.d. § 26 Abs. 1 AsylG "verspäteten" Asylantrag Schutzgründe geltend machen, die an die eigene Person anknüpfen (und sei es im Wege einer an der Verfolgung eines Mitglieds der Kernfamilie anknüpfenden, "sippenhaftähnlichen" Verfolgung), um so eine Schutzposition nicht aus nach § 26 AsylG abgeleitetem, sondern aus eigenem Recht zu erlangen. Der Ausschluss des Familienasyls nach nationalem Recht berührt nicht die unionsrechtlichen Voraussetzungen einer Schutzgewähr oder die hierauf bezogenen Verfahrensgarantien und lässt auch die unionsrechtlich aus Art. 23 Abs. 1 und 2 RL 2011/95/EU folgenden Ansprüche und Rechte von Familienangehörigen im Bundesgebiet unberührt. Schon deswegen steht Unionsrecht dem Gebot unverzüglicher Antragstellung nicht entgegen und greifen auch sonst die aus den Folgen der unverzüglichen Antragstellung hiergegen hergeleiteten unionsrechtlichen Bedenken nicht durch.

17 b) Dass § 26 Abs. 2 AsylG ein § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 AsylG entsprechendes Erfordernis einer unverzüglichen Antragstellung nicht vorsieht, ist - ohne dass insoweit revisionsrechtlicher Klärungsbedarf erkennbar ist - im Lichte von Art. 3 Abs. 1 GG schon wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern sachlich gerechtfertigt (zu Art. 3 Abs. 1 GG selbst und damit zur Maßstabsbildung wird Klärungsbedarf schon nicht geltend gemacht). Unabhängig davon folgt die Unterscheidung nach Art und Umfang der Logik der Entscheidung des Gesetzgebers, auch Kindern, die erst nach der Zuerkennung des internationalen Schutzes des Stammberechtigten geboren sind, im Hinblick auf einen einheitlichen Rechtsstatus der Familie internationalen Familienschutz nach § 26 Abs. 2 AsylG zu gewähren (BT-Drs. 12/2718 S. 60; vgl. ferner BT-Drs. 15/420 S. 109). Muss das Kind des Stammberechtigten dessen Fluchtschicksal nicht geteilt haben, so bedarf es auch nicht der sich in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 AsylG widerspiegelnden Nähe zu dem Verfolgungsschicksal des schutzberechtigten Elternteils (so bereits VGH Mannheim, Urteil vom 16. Mai 2002 - A 13 S 1068/01 - InfAuslR 2002, 502 <503>).

18 c) Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU steht der Differenzierung aus den unter 2.1 b) dargelegten Erwägungen nicht entgegen.

19 3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

20 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.

Beschluss vom 10.02.2022 -
BVerwG 1 B 18.22ECLI:DE:BVerwG:2022:100222B1B18.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 10.02.2022 - 1 B 18.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:100222B1B18.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 18.22

  • VG Köln - 04.05.2020 - AZ: 11 K 4670/19.A
  • OVG Münster - 30.04.2021 - AZ: 14 A 1529/20.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. Februar 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Die Anhörungsrüge der Klägerin gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Dezember 2021 - 1 B 35.21 - wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rügeverfahrens.

Gründe

1 Die Anhörungsrüge der Klägerin hat keinen Erfolg. Sie legt das Vorliegen einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Sinne von § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO schon nicht in einer den Anforderungen des § 152a Abs. 2 Satz 6 VwGO genügenden Weise dar.

2 1. Im gerichtlichen Verfahren gewährleisten Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO den Beteiligten das Recht, sich vor einer Entscheidung zu allen erheblichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen zu äußern. Das Gericht muss nach seiner Rechtsauffassung rechtlich erhebliches Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen. Eine Verletzung dieser Pflicht ist nicht schon anzunehmen, wenn eine Entscheidung, namentlich eine letztinstanzliche, nicht auf jedes Element eines sehr umfangreichen Vortrags eingeht, sondern erst, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen ergibt, dass nach der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserhebliches Vorbringen übergangen wurde. Davon ist auszugehen, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Beteiligtenvorbringens zu einer Frage, die nach seiner eigenen Rechtsauffassung für den Prozessausgang von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht eingeht (stRspr, vgl. BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205 <216 f.>; BVerwG, Urteil vom 31. Juli 2002 - 8 C 37.01 - Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 35 S. 109 jeweils m.w.N.).

3 2. Dies ist der Begründung der Anhörungsrüge nicht zu entnehmen.

4 2.1 Die Klägerin macht der Sache nach keine Nichtberücksichtigung entscheidungserheblichen Vorbringens, sondern eine - aus ihrer Sicht - fehlerhafte Anwendung des Revisionszulassungsrechts geltend, indem das Gericht es ihr durch die Nichtzulassung der Revision verwehrt habe, ihre Rechtsansicht in einer im Revisionsverfahren durchzuführenden mündlichen Verhandlung zu vertreten. Die Nichtzulassung von Vorbringen in einem erst noch durch einen positiven Zulassungsbeschluss zu eröffnenden Verfahrensstadium - dem Revisionsverfahren - verletzt aber schon im Ansatz nicht das rechtliche Gehör der Klägerin im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde, das eine mündliche Verhandlung gerade nicht vorsieht. Berührt wird allenfalls die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG), die u.a. dann verletzt ist, wenn die Fachgerichte überhöhte Anforderungen an das Vorliegen eines Rechtsmittelzulassungsgrundes stellen (s. etwa BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 8. Mai 2019 - 2 BvR 657/19 -, vom 16. April 2020 - 1 BvR 2705/16 - und vom 25. September 2020 - 2 BvR 854/20 - jeweils juris). Dass im Verfahren über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision entscheidungserhebliches Vorbringen unberücksichtigt geblieben sei, ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen, dass "man die [mit der Beschwerde] aufgestellten Fragen so oder so beantworten kann", was nicht Aufgabe eines Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens sei.

5 2.2 An einer hinreichenden Darlegung fehlte es indes selbst dann, wenn einer Mindermeinung zu folgen wäre, dass § 152a VwGO analog auch auf die Verletzung verfassungsrechtlich gewährleisteter Verfahrensprinzipien Anwendung fände oder insoweit weiterhin eine Gegenvorstellung zuzulassen wäre (s. Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 152a Rn. 22 und 27). Eine mögliche Verletzung der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) durch ein "Durchentscheiden" einer bislang ungeklärten Rechtsfrage im verwaltungsgerichtlichen Rechtsmittelzulassungsverfahren (s. etwa BVerfG, Beschluss vom 18. Juni 2019 - 1 BvR 587/17 - BVerfGE 151, 173 Rn. 29) ist mit Hinweis darauf, dass die zur Prüfung gestellten Fragen "so oder so" beantwortet werden könnten, und den knappen Ausführungen zur Statusangleichung der Mitglieder der Kernfamilie sowie dem Festhalten des Gesetzgebers an den ausländerrechtlichen Differenzierungen zwischen subsidiär Schutzberechtigten und anerkannten Flüchtlingen nicht (substantiiert) dargelegt.

6 Nach der gefestigten Rechtsprechung sämtlicher Senate des Bundesverwaltungsgerichts besteht bei der Grundsatzrüge ein geltend gemachter Klärungsbedarf dann nicht, wenn sich die aufgeworfene Rechtsfrage auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Interpretation und auf der Grundlage der entstandenen Rechtsprechung ohne Weiteres beantworten lässt. Dass diese Voraussetzungen für eine Verneinung der Klärungsbedürftigkeit der von der Nichtzulassungsbeschwerde als rechtsgrundsätzlich aufgeworfenen Rechtsfragen - entgegen der im angegriffenen Beschluss dargelegten Rechtsauffassung des Senats - nicht vorgelegen hätten, wird der Sache nach zwar behauptet, nicht aber in Auseinandersetzung mit den Gründen des Beschlusses vom 21. Dezember 2021 dargelegt. Die bloße Wiederholung bereits im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren geführter Argumente reichte schon deswegen nicht aus, weil - bei zugunsten der Klägerin unterstellter Statthaftigkeit einer analogen Anwendung des § 152a VwGO - die Anhörungsrüge jedenfalls keinen Rechtsbehelf zur Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung eröffnet.

7 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.