Beschluss vom 29.03.2023 -
BVerwG 1 B 75.22ECLI:DE:BVerwG:2023:290323B1B75.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 29.03.2023 - 1 B 75.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:290323B1B75.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 75.22

  • VG Köln - 08.12.2020 - AZ: 7 K 7429/18
  • OVG Münster - 12.09.2022 - AZ: 11 A 405/21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 29. März 2023 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. September 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf Verfahrensmängel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (1.) und eine grundsätzliche Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (2.) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 1. Ein Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (stRspr, BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14 f. und vom 15. Juli 2022 - 4 B 32.21 - juris Rn. 18). Das Bezeichnungserfordernis schließt die Darlegung der Entscheidungserheblichkeit ein (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Dezember 2021 - 1 B 62.21 - juris Rn. 2).

3 Die von der Beschwerde erhobene Rüge eines Verstoßes gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO greift nicht durch. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Einhaltung der sich daraus ergebenden verfahrensmäßigen Verpflichtungen ist nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter eine aus seiner Sicht fehlerhafte Verwertung des vorliegenden Tatsachenmaterials rügt, aus dem er andere Schlüsse ziehen will als das angefochtene Urteil. Denn damit wird ein (vermeintlicher) Fehler in der Beweiswürdigung angesprochen. Solche Fehler sind revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen und können einen Verfahrensmangel i. S. v. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO deshalb grundsätzlich nicht begründen.

4 Eine Ausnahme kommt nur bei Mängeln in Betracht, die allein die Tatsachenfeststellung und nicht auch die Subsumtion unter die materiell-rechtliche Norm betreffen. Das kommt bei einer aktenwidrigen, gegen die Denkgesetze verstoßenden oder sonst von objektiver Willkür geprägten Sachverhaltswürdigung in Betracht, etwa bei denkfehlerhaften, aus Gründen der Logik schlechterdings unmöglichen oder sonst willkürlichen Schlussfolgerungen von Indizien auf Haupttatsachen (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 <273 f.>; Beschlüsse vom 6. März 2008 - 7 B 13.08 u. a. - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 54 Rn. 8 und vom 22. Mai 2008 - 9 B 34.07 - Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 65 Rn. 22). Ein Denkfehler in diesem Sinne liegt allerdings nicht bereits dann vor, wenn die tatrichterliche Würdigung auch anders hätte ausfallen können. Denkgesetze werden durch Schlussfolgerungen nur dann verletzt, wenn nach dem gegebenen Sachverhalt nur eine einzige Folgerung gezogen werden kann, jede andere Folgerung aus Gründen der Logik schlechterdings unmöglich ist und das Gericht die allein mögliche Folgerung nicht gezogen hat (BVerwG, Beschlüsse vom 18. Februar 1972 - 8 B 3.72 u. a. - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 62 S. 28 und vom 6. März 2008 - 7 B 13.08 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 54 Rn. 8).

5 Überprüft werden kann auch, ob das Tatsachengericht allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze verletzt hat, etwa ob es gegen das Verbot selektiver Verwertung des Prozessstoffs (BVerwG, Urteil vom 20. März 1990 - 9 C 91.89 - BVerwGE 85, 92 <95> und Beschluss vom 20. August 2003 - 1 B 463.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 275 S. 100), ob es gegen das Gebot rationaler, um Objektivität bemühter Beurteilung verstoßen hat (BVerwG, Beschluss vom 2. November 1995 - 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 20) oder ob es den ihm gezogenen Beurteilungsrahmen überschritten hat, sei es dadurch, dass es von einem zweifelsfrei unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist, insbesondere ob es in das Verfahren eingeführte Umstände übergangen hat, deren Entscheidungserheblichkeit sich aufdrängt (BVerwG, Urteile vom 2. Februar 1984 - 6 C 134.81 - BVerwGE 68, 338 <339 f.> und vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <208 f.>), sei es, dass es gesetzliche Beweisregeln, allgemeine Erfahrungssätze, unumstrittene Geschichtstatsachen oder gar die Denkgesetze missachtet hat (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 2. November 1995 - 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 20).

6 Dass die Ausführungen im angefochtenen Berufungsurteil an einem derart qualifizierten Mangel leiden, zeigt die Beschwerdebegründung nicht auf. Die Beschwerde rügt im Wesentlichen, das Berufungsgericht habe sein klageabweisendes Urteil darauf gestützt, dass die Mutter der Beschwerdeführerin ihren Vater bereits in den Jahren 1937 oder 1939 verloren habe, obgleich dies nach ihrem Vortrag erst im Jahr 1941 - und damit jedenfalls in zeitlichem Zusammenhang mit dem maßgeblichen Stichtag des 22. Juni 1941 - der Fall gewesen sei. Mit diesem Vorbringen ist ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO indes nicht dargelegt, weil die Beschwerde die entscheidungserhebliche und in sich schlüssige Argumentation des Berufungsgerichts nur unvollständig wiedergibt. Danach waren die Großeltern der Klägerin als Bezugspersonen zur Vermittlung deutscher Volkszugehörigkeit deshalb ausgeschlossen, weil sie nach den unterschiedlichen Angaben der Klägerin in den Aufnahmeanträgen bereits im Jahr 1937 bzw. 1939 verstorben sind oder jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt (22. Juni 1941) nicht mehr in der Familie waren (UA Bl. 10 f.). Mit der letzteren, an das uneinheitliche Vorbringen der Klägerin im Verlauf des Verfahrens anknüpfenden Feststellung des Berufungsgerichts setzt sich die Beschwerde nicht auseinander.

7 2. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m. w. N.).

8 Nach diesen Grundsätzen ist die Revision nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Fragen zuzulassen,
a) in welchen Zeitraum vor den am Stichtag 22.6.1941 begonnenen allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen müssen Personen, von denen Antragsteller ihre deutsche Volkszugehörigkeit ableiten, sich in ihrer Heimat zum deutschen Volkstum bekannt haben, damit dieses Bekenntnis gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts noch als "unmittelbar" oder "kurz vor" Beginn dieser Maßnahmen abgegeben angesehen werden kann
und
ob es insbesondere bei frühgeborenen, im maßgeblichen Zeitpunkt des Beginns der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen noch bekenntnisunfähigen Kindern ausreicht, wenn ihre sie prägenden Eltern sich bis zu zwei oder bis zu vier Jahren vor dem Stichtag 22.6.1941 zum deutschen Volkstum bekannt haben
sowie
b) ob auch bei frühgeborenen Waisen die die Eltern ersetzende Bezugsperson das Bekenntnis zum deutschen Volkstum vermitteln kann,
weil sie - soweit sie abstrakt klärungsfähig sind - keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen erkennen lassen, die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht bereits geklärt sind.

9 a) Die Frage der vertriebenenrechtlichen Bedeutung des Stichtages 22. Juni 1941 als des Beginns der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen in der früheren Sowjetunion für bekenntnisunfähige Frühgeborene - vorliegend für die am 20. Juli 1934 geborene Mutter der Klägerin - hat der Senat zuletzt mit seinen Urteilen vom 29. Oktober 2019 - 1 C 43.18 - (BVerwGE 167, 9 Rn. 29) und vom 26. Januar 2021 - 1 C 5.20 - (BVerwGE 171, 210 Rn. 26 f.) beantwortet. Danach oblag es der Klägerin, nachzuweisen, dass sich ihre Großeltern oder ein Großelternteil kurz vor Beginn der Vertreibungsmaßnahmen am 22. Juni 1941 zum deutschen Volkstum bekannt hatten oder hatte. Dieser Nachweis ist der Klägerin nach der tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts misslungen, da ihre Großeltern nach den, den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts entweder in den Jahren 1937 bzw. 1939 verstorben waren oder zum maßgeblichen Zeitpunkt - dem 22. Juni 1941 oder kurz davor - nicht mehr in der Familie lebten (UA Bl. 10 f.). Auf eine nähere Bestimmung der zeitlichen Dimension des Begriffs "kurz vor Beginn der Vertreibungsmaßnahmen" – die ohnehin nur einzelfallbezogen und nicht generell-abstrakt möglich sein dürfte - kam es danach vom insoweit maßgeblichen Standpunkt des Berufungsgerichts ausgehend nicht mehr entscheidungserheblich an.

10 Soweit die Beschwerde die damit zusammenhängende weitere Teilfrage aufwirft, ob es für ein Bekenntnis "kurz vor Beginn der Vertreibungsmaßnahmen" ausreicht, dass die prägenden Eltern oder Großeltern sich bis zu zwei oder bis zu vier Jahren vor dem Stichtag des 22. Juni 1941 zum deutschen Volkstum bekannt haben, rechtfertigt auch dies nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Der Begriff "kurz vor Beginn der Vertreibungsmaßnahmen" lässt sich näher nur mit "zeitnah" oder "im zeitlichen Zusammenhang" umschreiben. Eine konkretere zeitliche Bestimmung nach Tagen, Wochen oder Monaten hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und verschließt sich daher einer rechtsgrundsätzlichen Klärung. Dass - wie die Klägerin meint - auch ein zwei oder vier Jahre vor dem Stichtag erfolgtes Bekenntnis noch als insoweit ausreichend anzusehen sein könnte, liegt nicht nahe und wird von der Beschwerde auch nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dargetan.

11 b) Soweit die Beschwerde meint, bei frühgeborenen Waisen könne eine die Eltern ersetzende Bezugsperson das Bekenntnis zum deutschen Volkstum vermitteln, übersieht sie die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Bekenntnisvertretung bei frühgeborenen bekenntnisunfähigen Kindern (BVerwG, Urteil vom 25. November 2004 - 5 C 49.03 - BVerwGE 122, 249 <253 f.>). Diese Vertretung ist ausgehend von der durch das minderjährige Kind erlebten Prägesituation in der Familie regelmäßig auf die erziehungsberechtigten Eltern oder einen Elternteil beschränkt. Soweit die Rechtsprechung für nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen geborene Kinder (sog. Spätgeborene) die Vermittlung deutschen Volkstums unter atypischen Umständen auch durch andere, außerhalb des Familienverbandes stehende Bezugspersonen für möglich hält (BVerwG, Beschluss vom 15. September 1992 - 9 B 18.92 - NVwZ-RR 1993, 667), ist nicht hinreichend dargelegt, dass im Hinblick auf die von der Beschwerde für geboten erachtete Erweiterung dieser Grundsätze auf "frühgeborene" Personen wie die Mutter der Klägerin grundsätzlicher Klärungsbedarf besteht. Die Klägerin nimmt zwar insoweit auf Art. 3 Abs. 1 GG Bezug, setzt sich aber nicht damit auseinander, dass es sich bei den frühgeborenen und den spätgeborenen Kindern um unterschiedliche Personengruppen handelt. Für ihre Angehörigen sind die Voraussetzungen der deutschen Volkszugehörigkeit verschieden, ohne dass insoweit Bedenken aus dem allgemeinen Gleichheitssatz hergeleitet werden könnten (BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 77.90 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 66). Zudem geht die Beschwerde nicht vollständig auf die Erwägungen des Berufungsgerichts ein. Denn das Berufungsgericht hat den Vortrag, die Schwester des Großvaters, Lisa M., habe der Mutter der Klägerin das deutsche Volkstum vermittelt, für nicht glaubhaft gehalten, weil die Behauptung der Klägerin, ihre Mutter habe von 1941 bis 1954 unter Kommandanturbewachung gestanden, ihrer weiteren Angabe widerspreche, die Mutter sei "nach Erschießen des Vaters" von dessen Schwester "zur Erziehung genommen" worden. Dazu passe auch nicht, dass als Wohnort der Mutter von deren Geburt 1934 bis zu ihrem Tod 1973 durchgehend S... klägerseitig angegeben worden sei (UA Bl. 12 f.).

12 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.