Beschluss vom 30.08.2022 -
BVerwG 1 B 54.22ECLI:DE:BVerwG:2022:300822B1B54.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 30.08.2022 - 1 B 54.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:300822B1B54.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 54.22

  • VG Aachen - 05.03.2021 - AZ: 9 K 3008/18.A
  • OVG Münster - 28.03.2022 - AZ: 11 A 879/21.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. August 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. März 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die auf den Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 I. Das Berufungsgericht hat nicht dadurch gegen den Überzeugungsgrundsatz bzw. gegen die Amtsaufklärungspflicht (1. und 2.) oder sonstige Verfahrensvorschriften (3.) verstoßen, indem es zu der Bewertung gelangt ist, im Fall seiner Rücküberstellung nach Italien werde der Kläger als anerkannter Schutzberechtigter mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zu einer Aufnahmeeinrichtung oder zu einer anderweitigen menschenwürdigen Unterkunft erlangen sowie seine Existenz weder durch Erwerbstätigkeit noch durch staatliche oder sonstige Unterstützung sichern können, sodass ihm eine Verletzung seiner durch Art. 4 GRC geschützten Rechte drohe.

3 1. Ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz und die Amtsaufklärungspflicht liegt insoweit nicht vor.

4 a) Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung einer Tatsacheninstanz ist der Beurteilung des Revisionsgerichts nur insoweit unterstellt, als es um Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geht. Rügefähig ist damit nicht das Ergebnis der Beweiswürdigung, sondern nur ein Verfahrensvorgang auf dem Weg dorthin. Ob das Gericht auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage entschieden hat (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist grundsätzlich eine dem materiellen Recht zuzuordnende Frage der Tatsachen- und Beweiswürdigung, auf die eine Verfahrensrüge nicht gestützt werden kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. November 2006 - 1 B 134.06 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 48 Rn. 4). Ein Verfahrensverstoß kommt ausnahmsweise dann in Betracht, wenn das angegriffene Urteil von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht. Das Gericht darf nicht in der Weise verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen oder Beweisergebnisse nicht in die rechtliche Würdigung einbezieht, insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen und deshalb seiner Überzeugungsbildung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt. In solchen Fällen fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts, auch wenn die darauf basierende rechtliche Würdigung als solche nicht zu beanstanden ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. März 2018 - 1 B 155.17 - juris Rn. 3 m. w. N.).

5 b) Die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe den mehrjährigen Aufenthalt des Klägers in Italien nicht berücksichtigt sowie zu Unrecht angenommen, der Kläger sei bereits 2003 in Italien eingetroffen, und deswegen den Sachverhalt unvollständig erfasst, greift nicht durch. Im Tatbestand des angefochtenen Beschlusses ist ausgeführt, der Kläger habe nach seinen Angaben bei der Anhörung durch das Bundesamt Italien das erste Mal im Jahr 2005 erreicht. Zwischen 2011 und 2015 habe er insgesamt viermal in Schweden und Norwegen Asylanträge gestellt und sei danach jeweils nach Italien zurückgeschickt worden. Aus diesen Abläufen ergibt sich offensichtlich ein langjähriger Aufenthalt des Klägers in Italien, sodass insoweit nicht von einem unvollständigen Sachverhalt ausgegangen werden kann.

6 2. Ohne Erfolg rügt die Beschwerde, das Berufungsgericht habe hinsichtlich der fehlenden Unterkunftssicherung während des mehrjährigen Aufenthalts des Klägers in Italien auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage entschieden, eine sich ihm aufdrängende Sachaufklärung unterlassen und sich mit der insoweit abweichenden Würdigung des Verwaltungsgerichts nicht auseinandergesetzt.

7 a) Ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz und die Amtsaufklärungspflicht liegt auch insoweit nicht vor.

8 Das Oberverwaltungsgericht hat in Anknüpfung an die Feststellungen in seinem Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A - (juris Rn. 38 ff.) ausgeführt (BA S. 8 f.), es lägen keine Anhaltspunkte für die Annahme vor, der schutzberechtigte Kläger könne infolge seiner mehrjährigen Abwesenheit überhaupt noch einen Anspruch auf Aufnahme in einer Einrichtung des SAI-Systems haben oder einen solchen nach seiner Rückkehr nach Italien zeitnah durchsetzen, zumal ein ihm in Italien im Zusammenhang mit der Schutzgewährung erteilter italienischer Aufenthaltstitel inzwischen abgelaufen sein dürfte. Es sei auch in Ermangelung bestehender Vulnerabilitäten nicht ersichtlich, dass jenem auf einen entsprechenden Antrag beim "Servizio Centrale" ausnahmsweise die Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung bewilligt würde.

9 Im Hinblick auf diese entscheidungstragenden Annahmen legt die Beschwerdebegründung nicht substantiiert dar, welche konkreten weiteren Sachaufklärungsmaßnahmen sich dem Berufungsgericht hätten aufdrängen müssen oder dass das Berufungsgericht erhebliche tatsächliche Informationen, die zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden waren, in seine Würdigung nicht einbezogen hätte. Vielmehr beschränkt sich die Beklagte darauf, die tatsächliche Würdigung des Sachverhalts durch das Berufungsgericht zu kritisieren.

10 Einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz und die Amtsaufklärungspflicht begründet auch der Hinweis der Beschwerde auf die Angaben des Klägers nicht, er habe sich während seiner Aufenthalte in Italien mit Hilfe von Freunden versorgt bzw. "durchgeschlagen". Allein daraus ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, das Oberverwaltungsgericht habe verfahrensfehlerhaft verkannt, dass dadurch die Voraussetzungen für die Existenzsicherung nach Maßgabe der Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC - auch unter Berücksichtigung der aufgrund des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens "erhöhten" Anforderungen an die Entkräftung der entsprechenden Vermutung (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 [ECLI:​EU:​C:​2019:​218] - Rn. 85 ff. m. w. N. und - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 [ECLI:​EU:​C:​2019:​219] - Rn. 86 ff.) - erfüllt seien. Eine insoweit zielführende Grundsatzrüge hat die Beklagte nicht erhoben.

11 b) Auch im Übrigen legt die Beschwerde hinsichtlich der Annahme des Oberverwaltungsgerichts, der Kläger werde im Falle seiner Rückkehr nach Italien in absehbarer Zeit keine Unterkunft bekommen, keinen Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dar. Das gilt namentlich im Hinblick auf die von der Beklagten beanstandete, vermeintlich unzureichende Auseinandersetzung des Oberverwaltungsgerichts mit den Angaben des Klägers.

12 3. Soweit das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen ist, der Kläger werde im Falle seiner Rückkehr nach Italien weder in der Lage sein, seine Existenz durch Erwerbstätigkeit zu sichern, noch einen Zugang zu ausreichenden staatlichen Sozialleistungen oder einer seine elementaren Bedürfnisse sichernde Unterstützung durch Hilfsorganisationen haben, ist ebenfalls kein Verfahrensfehler dargetan.

13 Ein solcher folgt insbesondere nicht aus dem Hinweis darauf, dass es dem Kläger bei seinen früheren Aufenthalten in Italien gelungen sein müsse, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Hieraus ergibt sich nicht, dass die prognostischen Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts zu der Situation des Klägers, die bei seiner derzeitigen Rückkehr nach Italien einträte, verfahrensfehlerhaft sein könnten.

14 4. Auch soweit die Beklagte der Sache nach rügt, das Berufungsgericht habe verfahrensfehlerhaft im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO außer Acht gelassen, dass dem Kläger als Schutzberechtigten nur nach der erfolglosen Ausschöpfung aller (Rechts-)behelfe zur Abwendung der Grundrechtsverletzung auch tatsächlich eine, von seinem Willen und seiner persönlichen Entscheidung unabhängige Situation extremer materieller Not im Sinne der "Ibrahim-Entscheidung" (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. - Rn. 90) drohe, kann dies der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen. Denn ein derartiges Erfordernis der Ausschöpfung von Rechtsbehelfen hat der Gerichtshof der Europäischen Union in diesem Zusammenhang nicht aufgestellt (siehe EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. - Rn. 81 bis 101 und - C-163/17 - Rn. 76 bis 98).

15 II. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

16 III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 RVG; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.