Verfahrensinformation

Bindet eine Flüchtlingsanerkennung durch Behörden eines EU-Mitgliedstaates die Bundesrepublik Deutschland im Asylverfahren?


Die Klägerinnen - eine Mutter und ihre 2019 in Deutschland geborene Tochter - sind syrische Staatsangehörige, denen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) im Oktober 2019 - unter Ablehnung des weitergehenden Flüchtlingsschutzes - subsidiären Schutz gewährte. Zur Begründung der mit dem Ziel des aufstockenden Flüchtlingsschutzes erhobenen Klagen haben die Klägerinnen ausgeführt, die Mutter sei bereits 2018 in Griechenland als Flüchtling anerkannt worden, könne dorthin aber nicht zurückkehren, weil ihr dort unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohten. Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung der Klageabweisung tragend ausgeführt, die erstmalige Gewährung von Flüchtlingsschutz durch einen EU-Mitgliedstaat (hier: Griechenland) binde einen anderen Mitgliedstaat (Deutschland) auch dann nicht, wenn eine Unzulässigkeitsentscheidung ausgeschlossen sei. Vielmehr sei der Flüchtlingsschutz durch das Bundesamt erneut in der Sache zu prüfen.


Das Revisionsverfahren bietet dem Bundesverwaltungsgericht insbesondere Gelegenheit, die Frage zu beantworten, ob die Anerkennung als Flüchtling durch einen EU-Mitgliedstaat dann aufgrund Unionsrechts für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich ist, wenn die Rückführung des Flüchtlings in den Mitgliedstaat der Erstanerkennung ausgeschlossen ist.


Pressemitteilung Nr. 56/2022 vom 07.09.2022

EuGH soll Folgen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen EU-Mitgliedstaat für das deutsche Asylverfahren klären

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) soll die Frage beantworten, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat (hier: Griechenland) einen anderen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) daran hindert, den bei ihm gestellten weiteren Antrag auf internationalen Schutz in einem Fall ergebnisoffen zu prüfen, in dem einer Rückkehr des Antragstellers in den ersten Mitgliedstaat die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 4 der EU-Grundrechtecharta entgegensteht und der Asylantrag in Deutschland deshalb nicht als unzulässig abgelehnt werden darf. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Die Klägerin ist syrische Staatsangehörige, der 2018 in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde. Sie kann nicht nach Griechenland zurückkehren, weil ihr dort nach der rechtskräftigen Entscheidung eines Verwaltungsgerichts unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta drohen würde.


Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gewährte ihr subsidiären Schutz und lehnte ihren Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab. Dieses Begehren verfolgt sie mit ihrer Klage weiter, die das Verwaltungsgericht abgewiesen hat. Die Gewährung von Flüchtlingsschutz durch Griechenland binde Deutschland in der vorliegenden Fallkonstellation nicht. Dies zugrunde gelegt sei der Antrag der Klägerin unbegründet, weil ihr in Syrien keine Verfolgung drohe.


Der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts hat das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die nachstehende Vorlagefrage ausgesetzt:


Sind in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen darf, weil die Lebensverhältnisse in diesem Mitgliedstaat den Antragsteller der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aussetzen würden, Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EU) 604/2013, Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 der Richtlinie 2011/95/EU sowie Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU dahin auszulegen, dass die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft den Mitgliedstaat daran hindert, den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen zu prüfen, und ihn dazu verpflichtet, ohne Untersuchung der materiellen Voraussetzungen dieses Schutzes dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen?


BVerwG 1 C 26.21 - Beschluss vom 07. September 2022

Vorinstanz:

VG Aachen, VG 1 K 2968/19.A - Urteil vom 19. August 2021 -


Beschluss vom 07.09.2022 -
BVerwG 1 C 26.21ECLI:DE:BVerwG:2022:070922B1C26.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 07.09.2022 - 1 C 26.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:070922B1C26.21.0]

Beschluss

BVerwG 1 C 26.21

  • VG Aachen - 19.08.2021 - AZ: 1 K 2968/19.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 7. September 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und Böhmann und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp und Fenzl
beschlossen:

  1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
  2. Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgender Frage eingeholt:
  3. Sind in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen darf, weil die Lebensverhältnisse in diesem Mitgliedstaat den Antragsteller der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC aussetzen würden, Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VO (EU) 604/2013, Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 RL 2011/95/EU sowie Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a RL 2013/32/EU dahin auszulegen, dass die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft den Mitgliedstaat daran hindert, den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen zu prüfen, und ihn dazu verpflichtet, ohne Untersuchung der materiellen Voraussetzungen dieses Schutzes dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen?

Gründe

I

1 Die Klägerin, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) als subsidiär schutzberechtigt anerkannt worden ist, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2 Die 1999 geborene Klägerin ist syrische Staatsangehörige, der bereits 2018 in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde. Sie kann nicht nach Griechenland zurückkehren, weil ihr dort nach der rechtskräftigen Entscheidung eines Verwaltungsgerichts die ernsthafte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC drohen würde. Das Bundesamt gewährte ihr mit Bescheid vom 1. Oktober 2019 subsidiären Schutz und lehnte ihren Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab.

3 Die hierauf gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit der Begründung abgewiesen, der geltend gemachte Anspruch folge nicht bereits daraus, dass der Klägerin in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. In der Sache sei der Antrag der Klägerin unbegründet, weil ihr in Syrien keine Verfolgung drohe.

4 Zur Begründung ihrer vom Verwaltungsgericht zugelassenen Sprungrevision macht die Klägerin in erster Linie geltend, dass die Beklagte an die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gebunden sei.

II

5 Der Rechtsstreit ist auszusetzen, weil sein Ausgang von einer vorab einzuholenden Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die Auslegung der Verträge abhängt (Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV -). Die Frage betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 S. 31, ber. 2017 L 49 S. 50; nachfolgend VO (EU) 604/2013), Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9, ber. ABl. 2017 L 167 S. 58; nachfolgend RL 2011/95/EU) sowie Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 S. 60; nachfolgend RL 2013/32/EU).

6 1. Die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Entscheidung des Bundesamtes richtet sich im nationalen Recht nach dem Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 9. Juli 2021 zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters (BGBl. I S. 2467, 2504) sowie nach dem Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 4a des Gesetzes zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen sowie zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und weiterer Gesetze vom 23. Mai 2022 (BGBl. I S. 760).

7 Der danach maßgebliche rechtliche Rahmen des Rechtsstreits ergibt sich aus den folgenden Vorschriften:
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(1) Dieses Gesetz gilt für Ausländer, die Folgendes beantragen:
(...)
2. internationalen Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12 .2011, S. 9); der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU umfasst den Schutz vor Verfolgung nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) und den subsidiären Schutz im Sinne der Richtlinie; der nach Maßgabe der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304 vom 30.9 .2004, S. 12) gewährte internationale Schutz steht dem internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU gleich; § 104 Absatz 9 des Aufenthaltsgesetzes bleibt unberührt.
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(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich
1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
(...)
(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.
(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.
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(1) Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn (...)
2. ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 gewährt hat (...).
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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

8 2. Am innerstaatlichen Recht gemessen steht der Klägerin nach § 3 Abs. 4 Halbs. 1 i. V. m. Abs. 1 AsylG kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu (a). Der Senat kann jedoch ohne eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) nicht feststellen, ob dieses Verständnis des § 3 Abs. 4 Halbs. 1 i. V. m. Abs. 1 AsylG mit Unionsrecht - nämlich mit Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VO (EU) 604/2013, Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 RL 2011/95/EU sowie Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a RL 2013/32/EU - vereinbar ist. Danach bedarf die im Beschlusstenor formulierte Frage einer Klärung durch den Gerichtshof, weil sie weder durch seine Rechtsprechung geklärt noch ihre Beantwortung offenkundig ist (b).

9 a) Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich, weil der Klägerin gemäß nationalem Recht nach den revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zusteht.

10 Ein solcher Anspruch ergibt sich zunächst nicht im Hinblick auf die individuelle Situation der Klägerin aus § 3 Abs. 4 Halbs. 1 i. V. m. Abs. 1 AsylG. Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts hat das Vorbringen der unverfolgt ausgereisten Klägerin und die tatsächlichen Verhältnisse in Syrien in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dahin beurteilt, dass ihr bei - einer hypothetischen - Rückkehr dorthin nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrelevante Verfolgung droht. Zu einer Sachentscheidung über den Asylantrag ist das Verwaltungsgericht verpflichtet gewesen, obwohl § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bestimmt, dass ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 17. November 2020 - 1 C 8.19 [ECLI:​DE:​BVerwG:​2020:​171120U1C8.19.0] - BVerwGE 170, 326 Rn. 14 f. und vom 30. März 2021 - 1 C 41.20 [ECLI:​DE:​BVerwG:​2021:​300321U1C41.20.0] - BVerwGE 172, 125 Rn. 31).

11 Denn diese Vorschrift ist in den Fällen anderweitiger Flüchtlingsanerkennung innerhalb der Europäischen Union unangewendet zu lassen, in denen der betreffende Ausländer wegen einer nach Art. 4 GRC drohenden ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nicht durch Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU auf den (formal gewährten) Schutz des anderen Mitgliedstaates verwiesen werden darf (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. [ECLI:​EU:​C:​2019:​219], Ibrahim u. a. - Rn. 81 ff. und 101 und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u. a. [ECLI:​EU:​C:​2019:​964], Hamed u. a. - Rn. 34 und 43).

12 Nach dem nationalen Recht steht der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auch nicht bereits wegen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Griechenland zu. Die hiervon ausgehenden Rechtswirkungen sind nationalrechtlich in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG abschließend geregelt. Danach schließt die für einen bestimmten Staat ausgesprochene ausländische Anerkennung als Flüchtling die Abschiebung in diesen Staat auch für Deutschland aus. Durch diese nationale Regelung hat der deutsche Gesetzgeber eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung angeordnet, aus der aber kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt (vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - BVerwGE 150, 29 Rn. 29 und vom 30. März 2021 - 1 C 41.20 - NVwZ 2022, 66 Rn. 32).

13 Eine weitergehende Bindung des Bundesamtes lässt sich nationalrechtlich auch nicht aus § 3 Abs. 3 AsylG herleiten. Danach ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen, wenn der Ausländer den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Art. 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, sind § 3 Abs. 1 und 2 AsylG anwendbar (§ 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) fällt derzeit als einzige Organisation in den Anwendungsbereich dieser Bestimmungen, die Art. 1 Abschn. D GFK sowie Art. 12 Abs. 1 Buchst. a RL 2011/95/EU umsetzen und gerade im Hinblick auf die besondere Lage der - regelmäßig staatenlosen - Palästinaflüchtlinge geschaffen worden sind, die den Beistand oder Schutz des UNRWA genießen. Liegen die Voraussetzungen dieser Vorschrift vor, ist einem Antragsteller daher auf seinen Antrag ipso facto die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ohne dass er in Bezug auf das Gebiet, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine begründete Furcht vor Verfolgung nachweisen muss (EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 [ECLI:​EU:​C:​2021:​3] - Rn. 51; BVerwG, Urteil vom 25. April 2019 - 1 C 28.18 [ECLI:​DE:​BVerwG:​2019:​250419U1C28.18.0] - Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 7 Rn. 18, unter Hinweis auf EuGH, Urteile vom 19. Dezember 2012 - C-364/11 [ECLI:​EU:​C:​2012:​826] - Rn. 67, 70 ff., 76 und vom 25. Juli 2018 - C-585/16 [ECLI:​EU:​C:​2018:​584] - Rn. 86).

14 Die genannten Voraussetzungen sind jedoch hier nicht gegeben. Zudem ist die Lage der Klägerin, der in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und in Deutschland subsidiärer Schutz gewährt wurde, nicht mit der in § 3 Abs. 3 AsylG geregelten Situation vergleichbar, so dass auch eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift nicht in Betracht kommt.

15 Eine andere Rechtslage ergibt sich entgegen der Auffassung der Revision auch nicht aus dem Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. September 2020 - 2 BvR 2082/18 [ECLI:​DE:​BVerfG:​2020:​rk20200913.2bvr208218] - (BeckRS 2020, 25171 Rn. 28), nach dem eine Abschiebung in den Herkunftsstaat im Falle einer bereits erfolgten Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat untersagt ist. Es kann dahinstehen, ob eine ausländische Flüchtlingsanerkennung auch dann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG oder unionsrechtlichen Normen begründet, wenn eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG - wie hier - ausgeschlossen ist (a. A. etwa VG Düsseldorf, Urteil vom 4. August 2021 - 16 K 1148/21.A [ECLI:​DE:​VGD:​2021:​0804.16K1148.21A.00] - juris Rn. 102; VG Stuttgart, Urteil vom 18. Februar 2022 - A 7 K 3174/21 [ECLI:​DE:​VGSTUTT:​2022:​0218.A7K3174.21.00] - juris Rn. 44; VG Aachen, Urteil vom 3. Juni 2022 - 10 K 2844/20.A [ECLI:​DE:​VGAC:​2022:​0603.10K2844.20A.00] - juris Rn. 99 ff.). Denn auch wenn dies der Fall sein sollte, bestätigte das lediglich die im Gesetz angeordnete, auf den Abschiebungsschutz beschränkte Rechtswirkung ausländischer Zuerkennungen (jedenfalls) des Flüchtlingsstatus. Eine umfassende Bindung an durch andere Mitgliedstaaten ausgesprochene Statusentscheidungen dergestalt, dass ein ausnahmsweise zur erneuten Durchführung eines Asylverfahrens verpflichteter Mitgliedstaat das im ersten Mitgliedstaat gefundene Ergebnis ungeprüft übernehmen müsste, lässt sich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingegen nicht entnehmen.

16 b) Der vorlegende Senat hält für klärungsbedürftig, ob die im Tenor des Beschlusses genannten Vorschriften des Unionsrechts in Fällen wie dem vorliegenden einer ergebnisoffenen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz durch die Beklagte entgegenstehen.

17 Eine solche Bindungswirkung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union für einen anderen Mitgliedstaat aufgrund primären Unionsrechts dürfte zur Überzeugung des Senats ausgeschlossen sein (aa). Ob sie sich aus sekundärem Unionsrecht ergeben könnte (bb), erscheint dem Senat demgegenüber durch den Gerichtshof klärungsbedürftig (cc).

18 (aa) Nach Art. 78 Abs. 1 Satz 1 AEUV entwickelt die Union eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz. Hierfür erlassen das Europäische Parlament und der Rat nach Art. 78 Abs. 2 AEUV gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem (GEAS). Dieses umfasst unter anderem einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige und einen einheitlichen subsidiären Schutzstatus für Drittstaatsangehörige, die keinen europäischen Asylstatus erhalten, aber internationalen Schutz benötigen (Art. 78 Abs. 2 Buchst. a und b AEUV). Weder diesen Regelungen noch sonstigen Vorschriften der Art. 77 ff. AEUV lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat der ergebnisoffenen Prüfung eines in einem weiteren Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz entgegenstünde. Vielmehr gibt es bislang gerade keine gegenseitige Anerkennung positiver Asylentscheidungen. Dies entspricht im Übrigen auch der verschiedentlich zum Ausdruck gekommenen Auffassung der Europäischen Kommission (vgl. "Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Ein offenes und sicheres Europa: Praktische Umsetzung" vom 11. März 2014 - COM <2014> 154 final, Nr. 3.1 sowie Factsheet "Fragen und Antworten zur Europäischen Migrationsagenda vom 13. Mai 2015, zur Frage der langfristigen Strategie im Bereich Asyl) und des Europäischen Parlaments ("Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. April 2016 zur Lage im Mittelmeerraum und zur Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes der EU für Migration" - 2015/2095 <INI> Rn. 39).

19 Der Gerichtshof hat aus Art. 2 und 3 EUV und Art. 67 und 82 Abs. 1 AEUV darüber hinaus den "Grundsatz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten" entwickelt. Er verlangt namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts von jedem Mitgliedstaat, dass dieser, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass die anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. - Rn. 83 f. und vom 22. Februar 2022 - C-483/20 [ECLI:​EU:​C:​2022:​103] - Rn. 28).

20 Daraus folgt aber keine Bindung an die in einem anderen Mitgliedstaat getroffene Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Dem Eintritt einer derart weitreichenden Rechtsfolge steht entgegen, dass die Union bislang gerade keinen einheitlichen Schutzstatus im Sinne des Art. 78 Abs. 2 Buchst. a und b AEUV geschaffen hat. Die inhaltliche Prüfung der Voraussetzungen des Antrags auf internationalen Schutz bleibt daher Sache des Mitgliedstaates, bei dem dieser Antrag gestellt wurde.

21 Unabhängig vom Vorstehenden könnte der unionsrechtliche Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zur Überzeugung des Senats in Fällen wie dem vorliegenden deshalb nicht greifen, weil der erstanerkennende Mitgliedstaat dieses Vertrauen und damit zugleich einen Grundwert im Sinne von Art. 2 EUV dadurch beeinträchtigt hat, dass der andere Mitgliedstaat von der Möglichkeit, eine Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU zu treffen, keinen Gebrauch machen darf, weil die Lebensverhältnisse im Staat der Erstanerkennung den Antragsteller der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC aussetzen. Ist das gegenseitige Vertrauen in dieser Weise bereits erschüttert, kann es nicht zugleich Grundlage einer Bindungswirkung von Entscheidungen des erstaufnehmenden Mitgliedstaates sein.

22 (bb) Auch das Sekundärrecht der Union kennt keine Regelung des verfahrensrechtlichen oder des materiellen Flüchtlingsrechts, die ausdrücklich eine Bindung an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen Mitgliedstaat für das Asylverfahren eines anderen Mitgliedstaates vorschreibt. Dies entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Senats (BVerwG, Urteile vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - BVerwGE 150, 29 Rn. 29 und vom 30. März 2021 - 1 C 41.20 - BVerwGE 172, 125 Rn. 32).

23 Vom Gerichtshof bisher nicht entschieden und auch sonst nicht offenkundig ist indes, ob sich eine Bindungswirkung mitgliedstaatlicher Anerkennungsentscheidungen im Asylverfahren gleichwohl aus dem in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) zum Ausdruck kommenden allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz herleiten lässt, dass der Asylantrag eines Antragstellers (allein) von einem einzigen Mitgliedstaat inhaltlich geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt wird. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das ein zentraler Grundsatz der Dublin III-Verordnung, der dem GEAS generell zugrunde liegt (EuGH, Urteil vom 2. April 2019 - C-582/17 u. a. [ECLI:​EU:​C:​2019:​280] - Rn. 78) und der deshalb auch in Fällen zum Tragen kommen könnte, die - wie derjenige der Klägerin - nicht nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zu beurteilen sind. Danach könnte eine inhaltliche Prüfung in einem einzigen Mitgliedstaat - unabhängig vom Prüfungsergebnis - in allen anderen Mitgliedstaaten Geltung beanspruchen.

24 Auch der Wortlaut der Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 RL 2011/95/EU steht einer Auslegung nicht entgegen, dass es für die Anerkennung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union allein auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat ankommen könnte. Während Art. 4 Abs. 1 Satz 2 RL 2011/95/EU bestimmt, dass es die Pflicht des Mitgliedstaates ist, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen, regelt Art. 13 RL 2011/95/EU, dass die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II - Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz - und Kapitel III - Anerkennung als Flüchtling - erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen. In der Zusammenschau könnten diese beiden verfahrensrechtlichen Vorgaben dahin auszulegen sein, dass allein die Zuerkennung des internationalen Schutzstatus in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union maßgeblich ist, der damit in allen Mitgliedstaaten ohne weitere Überprüfung anzuerkennen ist.

25 Für die Beantwortung der Frage nach einer unionsweiten Anerkennung des von einem Mitgliedstaat zuerkannten Flüchtlingsschutzes sind des Weiteren die einschlägigen Vorgaben der Richtlinie 2013/32/EU zu berücksichtigen. Dabei ist zunächst auf Erwägungsgrund 43 Satz 2 zu dieser Richtlinie hinzuweisen, der festlegt, dass Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sein sollen, einen Antrag auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen, wenn ein anderer Mitgliedstaat dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat oder ihm anderweitig ausreichenden Schutz gewährt und die Rückübernahme des Antragstellers in diesen Staat gewährleistet ist. Des Weiteren sind Art. 10 Abs. 2 und 3 sowie Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a RL 2013/32/EU in den Blick zu nehmen. Art. 10 RL 2013/32/EU bestimmt die Anforderungen an die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz. Auf einen solchen Antrag stellt die Asylbehörde nach Art. 10 Abs. 2 RL 2013/32/EU zuerst fest, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt. Art. 10 Abs. 3 RL 2013/32/EU legt die dazu notwendigen verfahrensrechtlichen Standards fest. Des Weiteren regelt Art. 33 Abs. 1 RL 2013/32/EU, dass zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ein Antrag nicht geprüft wird, die Mitgliedstaaten nicht prüfen müssen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird. Gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU kommt das in Betracht, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat.

26 Die in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU den Mitgliedstaaten eröffnete Möglichkeit, auf eine Sachentscheidung für den Fall zu verzichten, dass ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat - für die Bundesrepublik Deutschland in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG geregelt –, könnte als Ausdruck des Grundsatzes einer einzigen inhaltlichen Prüfung eines Asylantrags in einem einzigen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu verstehen sein. Es stellt sich indes die weitere Frage, ob in den Fällen wie dem vorliegenden, in denen das Gebrauchmachen von der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU geregelten Befugnis aufgrund einer andernfalls drohenden Verletzung von Art. 4 GRC ausgeschlossen ist, eine Bindungswirkung einer mitgliedstaatlichen Anerkennungsentscheidung für alle Mitgliedstaaten eintreten kann. Zwar kann es bei konsequenter Anwendung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU eröffneten Möglichkeit schon gar nicht zu einer Sachentscheidung in einem anderen Mitgliedstaat kommen, doch ist dieser Weg in Fällen wie dem vorliegenden von vornherein verschlossen.

27 Vor diesem Hintergrund ist nach den Rechtsfolgen zu fragen, die der Wegfall der Befugnis zum Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU auslöst. Generalanwalt Pikamäe hat dazu wörtlich ausgeführt (EuGH, Schlussantrag des Generalanwalts vom 30. September 2021 - C-483/20 [ECLI:​EU:​C:​2021:​780] - Rn. 64):
"Für den Fall, dass sich ein Mitgliedstaat mit einer Situation konfrontiert sieht, die ihn daran hindert, von der ihm in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 verliehenen Befugnis Gebrauch zu machen, hätte er den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz folglich zu prüfen und zu untersuchen, ob die internationalen Schutz beantragende Person die oben beschriebenen materiellen Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllt. Der Mitgliedstaat muss den betreffenden Drittstaatsangehörigen daher wie eine Person behandeln, die erstmals internationalen Schutz beantragt, unabhängig von dem Schutz, der ihm von einem anderen Mitgliedstaat bereits gewährt worden ist. Die Folgen einer solchen Situation hat der Unionsgesetzgeber im Rahmen des in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Unzulässigkeitsmechanismus zweifellos bedacht [...]; soll dieser Vorschrift nicht ihre gesamte praktische Wirksamkeit genommen werden, darf der Umstand im Zusammenhang mit der vorherigen Zuerkennung des internationalen Schutzes durch einen ersten Mitgliedstaat - darauf sei abermals hingewiesen - im Rahmen der Sachprüfung des Antrags in keiner Weise berücksichtigt werden [...]."

28 Der Senat hält diese Auffassung, zu der sich der Gerichtshof bislang nicht geäußert hat, für überzeugend.

29 Gewisse Anhaltspunkte für eine Bindungswirkung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergeben sich möglicherweise allerdings auch daraus, dass die Verneinung dieser Rechtsfolge zu einer Umgehung der speziellen Regeln für das Erlöschen, den Ausschluss und die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (Art. 11, 12 und 14 RL 2011/95/EU) führen könnte. Dies hat das Bundesverfassungsgericht (Kammerbeschluss vom 30. März 2022 - 2 BvR 2069/21 [ECLI:​DE:​BVerfG:​2022:​rk20220330.2bvr206921] - juris Rn. 48 ff.) bezogen auf das Auslieferungsverfahren und die Auslegung von Art. 9 Abs. 2 und 3 RL 2013/32/EU erwogen und die genannte Frage als bislang ungeklärt bezeichnet (vgl. nunmehr das beim Gerichtshof unter dem Az: C-352/22 anhängige Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Hamm). Auch in Fällen wie dem vorliegenden könnte angenommen werden, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat durch eine erneute Sachprüfung, die mit der Möglichkeit der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz verbunden ist, faktisch entwertet wird, ohne dass die Voraussetzungen der Art. 11, 12 oder 14 RL 2011/95/EU vorliegen.

30 Gegen eine solche Umgehungsgefahr spricht, dass es in dem hier in Rede stehenden Asylverfahren nicht um das Erlöschen oder um die Aberkennung des in dem ersten Mitgliedstaat zuerkannten Flüchtlingsstatus, sondern darum geht, ob ein Asylantragsteller zusätzlich zu dem ihm bereits in dem ersten Mitgliedstaat zuerkannten Flüchtlingsstatus eine weitere Schutzberechtigung mit den darin verbundenen Rechten in dem zweitprüfenden Mitgliedstaat erlangen kann. Anders als im Auslieferungsverfahren droht hingegen keine Verschlechterung der Rechtsposition des Asylantragstellers, der jedenfalls mit Blick auf den ihm zuerkannten subsidiären Schutz in seinem Herkunftsstaat nicht abgeschoben werden kann. Gleichwohl bestärkt die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts den Senat darin, die vorgelegte Rechtsfrage für unionsrechtlich nicht geklärt zu halten.

31 (cc) Die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs kann zur Überzeugung des Senats weder in die eine noch in die andere Richtung mit Gewissheit zur Beantwortung der aufgeworfenen Bindungsfrage herangezogen werden. Namentlich der Beschluss des Gerichtshofs in der Rechtssache "Hamed u. a." (EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u. a. -) verhält sich zur Art und Weise der Durchführung eines neuen Asylverfahrens nicht hinreichend eindeutig.

32 In dem Beschluss führt der Gerichtshof (EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u. a. - Rn. 42) wörtlich aus:
"Wie sich außerdem aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, bietet das deutsche Recht zwar einen gewissen Schutz für einen Antragsteller, der aufgrund der ernsthaften Gefahr, in dem Mitgliedstaat, der ihm bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, nicht dorthin zurückgeführt werden kann; es sieht jedoch ohne ein neues Asylverfahren nicht die Anerkennung dieser Eigenschaft und die Gewährung der damit verbundenen Rechte auch in Deutschland vor."

33 Sofern der Gerichtshof einerseits von einem "neuen" Asylverfahren spricht, spricht dies für eine in jeder Hinsicht ergebnisoffene Prüfung. Andererseits stellt der Gerichtshof im weiteren Verlauf des wiedergegebenen Satzes die an die Flüchtlingseigenschaft geknüpften Rechte, das heißt die statusrechtlichen Folgen der Anerkennung, in den Vordergrund. Diese Feststellung des Gerichtshofs könnte auch im Sinne einer Bindungswirkung der Flüchtlingserstanerkennung eines Mitgliedstaates durch andere Mitgliedstaaten zu verstehen sein.