Beschluss vom 07.10.2022 -
BVerwG 1 B 34.22ECLI:DE:BVerwG:2022:071022B1B34.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 07.10.2022 - 1 B 34.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:071022B1B34.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 34.22

  • VGH Mannheim - 03.12.2021 - AZ: A 3 S 984/19
  • VGH Mannheim - 03.12.2021 - AZ: A 3 S 984/19

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. Oktober 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 3. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.
  2. Der Antrag des Klägers auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts wird abgelehnt.
  3. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

2 1. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

3 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m. w. N.). Diesen Anforderungen wird das Vorbringen des Klägers nicht gerecht.

4 Die von der Beschwerde aufgeworfenen Fragen,
welche Anforderungen an die Annahme der vom Gerichtshof der Europäischen Union in seiner Entscheidung vom 19. November 2020 - C-238/19 [ECLI:​EU:​C:​2020:​945] - aufgestellten "starken Vermutung" zu stellen sind
und
welche Bedeutung einer solchen "starken Vermutung" im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zukommt,
rechtfertigen es nicht, die Revision zuzulassen, weil sie - ihre Klärungsfähigkeit unterstellt - im vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich sind und sich daher in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht stellen würden. Auf die Voraussetzungen der "starken Vermutung" und ihre Rechtsfolgen kam es für die Klageabweisung durch das Berufungsgericht nicht an.

5 a) Der Hinweis der Beschwerde auf die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (Urteil vom 29. Januar 2021 - OVG 3 B 109.18 -) ändert hieran nichts, weil zwar eine - vom Berufungsgericht hier auch benannte - Abweichung bei der tatrichterlichen Bewertung der Gefahr einer Verfolgungshandlung vorliegt (deren beachtliche Wahrscheinlichkeit das Berufungsgericht hier geprüft und in Würdigung der Erkenntnislage verneint hat), nicht aber eine "Abweichung" in entscheidungserheblichen Rechtssätzen bezeichnet wird, schon gar nicht im Hinblick auf die von der Beschwerde formulierten Grundsatzfragen.

6 Für die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung reicht, anders als für die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO oder § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG (BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 - BVerwGE 70, 24 <26>), eine Tatsachenfrage von grundsätzlicher Bedeutung nicht aus (stRspr, s. nur BVerwG, Beschluss vom 14. September 2020 - 1 B 38.20 - juris). Die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen. Auch der Umstand, dass das Ergebnis der zur Feststellung und Würdigung des Tatsachenstoffes berufenen Instanzgerichte voneinander abweicht oder für eine Vielzahl von Verfahren von Bedeutung ist, lässt für sich allein eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 21 ff.) haben sich allerdings die Berufungsgerichte nach § 108 VwGO (erkennbar) mit abweichenden Tatsachen- und Lagebeurteilungen anderer Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe auseinanderzusetzen. Dies hat das Berufungsgericht hier im Hinblick auf die von der Beschwerde zitierte Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg getan (vgl. UA Bl. 21, 23, 24).

7 b) Keine andere Beurteilung rechtfertigt es, dass der Senat mit Beschlüssen vom 20. Juli 2021 - 1 B 26.21 (1 C 21.21 ) - und vom 2. November 2021 - 1 B 54.21 (1 C 35.21 ) - gegen die von der Beschwerde herangezogenen Urteile des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg die Revision zur Klärung von Fragen zugelassen hat, die den von der Beschwerde formulierten Fragen entsprechen. Sie sind hier nicht entscheidungserheblich, denn sie setzen die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer an die Militärdienstentziehung anknüpfenden Verfolgungshandlung voraus und beziehen sich allein auf die Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber eine flüchtlingsrelevante Verfolgung des Klägers infolge einer Militärdienstentziehung gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Art und Weise als nicht beachtlich wahrscheinlich beurteilt (UA, Bl. 20, 22, 23 f.).

8 2. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensmangels nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Das angefochtene Berufungsurteil beruht nicht auf einer - geltend gemachten - Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör.

9 Im gerichtlichen Verfahren gewährleisten Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO den Beteiligten das Recht, sich vor der Entscheidung zu allen dafür erheblichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen zu äußern. Rechtlich erhebliches Vorbringen der Beteiligten muss das Gericht zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen (stRspr, vgl. BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205 <216>).

10 Gemessen daran liegt eine Verletzung des Rechts des Klägers auf rechtliches Gehör nicht vor. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich im Berufungsurteil mit dem von der Beschwerde benannten Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2020 - C-238/19 - ausdrücklich und in der Sache auseinandergesetzt (UA Bl. 18, 21, 23). Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO gewähren keinen Schutz dagegen, dass ein Gericht den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lässt (vgl. BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205 <216 f.> m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 20. Juli 2020 - 2 B 33.20 (2 B 5.19 ) - juris Rn. 5 m. w. N.). Dass sich das Berufungsurteil - wie von der Beschwerde zutreffend geltend gemacht - nicht mit Rn. 54 des genannten Urteils zur Frage der Beweislast für die Verknüpfung zwischen Verfolgungsgrund und einer drohenden Verfolgungshandlung befasst, beruht auf der insoweit allein maßgeblichen materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs. Das Berufungsgericht hat bereits die plausible Darlegung einer drohenden Verfolgungshandlung durch den Kläger verneint (UA Bl. 18 unten, 20, 23) und daher der Frage der Beweislast für die Verknüpfung zwischen Verfolgungsgrund und einer drohenden Verfolgungshandlung keine entscheidungserhebliche Bedeutung mehr beigemessen.

11 3. Aus dem Vorstehenden ergibt sich zugleich, dass auch der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten unbegründet ist. Die Rechtsverfolgung des Klägers bietet auch unter Berücksichtigung des insoweit geltenden niedrigeren Maßstabs (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. März 1990 - 2 BvR 94/88 u. a. - BVerfGE 81, 347 <357>) keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

12 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.