Beschluss vom 15.05.2025 -
BVerwG 9 B 66.24ECLI:DE:BVerwG:2025:150525B9B66.24.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 15.05.2025 - 9 B 66.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:150525B9B66.24.0]
Beschluss
BVerwG 9 B 66.24
- VG Lüneburg - 27.05.2020 - AZ: 3 A 221/18
- OVG Lüneburg - 24.04.2024 - AZ: 9 LC 117/20
In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. Mai 2025
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Bick und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Steinkühler und Dr. Plog
beschlossen:
- Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 24. April 2024 wird zurückgewiesen.
- Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
- Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 26,52 € festgesetzt.
Gründe
1 Die auf alle Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
2 1. Grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache nur, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Den Darlegungen der Beschwerde lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.
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Die Frage,
"ob und in welchem Umfang eine Benutzungsfiktion Anhalt für den Umfang einer Benutzung bietet und so in Form eines Wirklichkeitsmaßstabs als Grundlage der Bemessung einer Straßenreinigungsgebühr dienen kann",
betrifft die Auslegung und Anwendung von Landesrecht, das gemäß § 137 Abs. 1 VwGO der revisionsgerichtlichen Kontrolle entzogen und an dessen Auslegung durch das Oberverwaltungsgericht das Revisionsgericht nach § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 560 ZPO gebunden ist. Denn die Frage zielt auf die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die Ersetzung des bisherigen Maßstabs für die Berechnung von Straßenreinigungsgebühren (Frontmetermaßstab) durch den sogenannten Quadratwurzelmaßstab stehe in Einklang mit § 52 Abs. 3 Satz 4 NStrG i. V. m. § 5 Abs. 3 Satz 2 NKAG und mit Art. 3 Abs. 1 GG (UA S. 11 ff.). Auch der neue Maßstab sei − ebenso wie der Frontmetermaßstab − ein zulässiger Wahrscheinlichkeitsmaßstab, dem kein Wirklichkeitsmaßstab i. S. v. § 5 Abs. 3 Satz 1 NKAG vorgehe. Dabei sei zu beachten, dass die Inanspruchnahme der öffentlichen Einrichtung Straßenreinigung gemäß § 52 Abs. 3 Satz 1 NStrG nur eine fingierte Inanspruchnahme sei.
4 Die Beschwerde hält diese Annahmen für falsch und nicht ausreichend begründet, geht bei ihrer Kritik aber nicht auf Fragen des revisiblen Bundesrechts ein.
5 2. Die Revision ist nicht wegen einer Divergenz nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen.
6 Eine Divergenz ist nach ständiger Rechtsprechung nur dann hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten ebensolchen, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Vorschrift widersprochen hat (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 8. August 2024 - 9 B 8.24 - juris Rn. 12).
7 Hieran fehlt es. Die Beschwerde zeigt keine unterschiedliche Beantwortung einer die Entscheidung tragenden abstrakten Rechtsfrage auf. Sie erkennt selbst, dass es in dem angegebenen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. April 1974 (- 7 B 82.73 -) um eine andere Fragestellung, nämlich die Bemessung der Straßenreinigungsgebühren nach der Geschosszahl der Gebäude ging. Darauf, dass der Kläger aus diesem Beschluss bestimmte Rückschlüsse auf die Zulässigkeit des hier in Rede stehenden Quadratwurzelmaßstabs gezogen hat, kommt es nicht an. Vielmehr müsste er − wie ausgeführt − eine "Abweichung im Rechtssatz" darlegen.
8 3. Die Revision ist auch nicht zuzulassen, weil ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
9 a) Soweit der Kläger einen Verstoß gegen § 117 Abs. 3 Satz 1 VwGO durch einen unvollständigen Urteilstatbestand rügt (hier: Fehlen eines Teils seiner Gehörsrüge, vgl. Beschwerdebegründung vom 8. Oktober 2024 S. 1 unter Bezugnahme auf die Berufungsbegründung vom 12. August 2020 unter A 2), überspannt er die Anforderungen der genannten Norm. Danach ist im Tatbestand der Sach- und Streitstand unter Hervorhebung der gestellten Anträge seinem wesentlichen Inhalt nach gedrängt darzustellen. Nach § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO soll wegen der Einzelheiten auf Schriftsätze, Protokolle und andere Unterlagen verwiesen werden, soweit sich aus ihnen der Sach- und Streitstand ausreichend ergibt.
10 Diesen Anforderungen wird das angegriffene Urteil gerecht. Aus dessen Tatbestand wird deutlich, dass der Kläger das erstinstanzliche Urteil aus verschiedenen Gründen für verfahrensfehlerhaft hielt (vgl. UA S. 7). Dies genügte, um den "wesentlichen Inhalt" seines Vorbringens wiederzugeben, zumal im Tatbestand wegen der weiteren Einzelheiten auf den Inhalt der Gerichtsakten, mithin auch auf die Schriftsätze des Klägers, verwiesen wird. Es war entgegen der Auffassung des Klägers nicht erforderlich, im Tatbestand neben den beiden ausdrücklich genannten Verfahrensfehlern (gesetzeswidrige Besetzung und ausschließliche Zitierung nach der juris-Datei) auch noch die geltend gemachte weitere Verletzung rechtlichen Gehörs zu erwähnen, die der Kläger darin sieht, dass im erstinstanzlichen Urteil sein Vortrag ignoriert worden sei.
11 Aus der Beschwerde ergeben sich auch keine verfahrensrechtlichen Mängel der Überzeugungsbildung (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 15. August 2023 - 9 B 9.23 - juris Rn. 7). Der Kläger legt nicht dar, welches sonstige Vorbringen "weitgehend übergangen" worden sein könnte. Es ist auch sonst nicht ersichtlich, dass das Oberverwaltungsgericht nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergangen oder aktenwidrige Tatsachen angenommen hätte.
12 b) Der Kläger macht zudem geltend, dass über diesen im Tatbestand ausgelassenen Teil seiner Gehörsrüge auch im Urteil nicht befunden worden sei. Hierin liegt keine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO.
13 Die genannten Regelungen verpflichten das Gericht, aus seiner Sicht entscheidungserhebliches Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht jedoch dazu, sich in seinen schriftlichen Entscheidungsgründen mit jedem vorgebrachten Gesichtspunkt ausdrücklich zu befassen. In der Regel ist davon auszugehen, dass das Gericht die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und erwogen hat. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist erst dann verletzt, wenn im Einzelfall besondere Umstände darauf hindeuten, dass das Gericht seiner Pflicht nicht nachgekommen ist, wenn etwa das Vorbringen eines Beteiligten zu einem zentralen Gesichtspunkt, der nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts nicht unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war, nicht berücksichtigt worden ist (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 11. Februar 2019 - 9 B 45.18 - juris Rn. 5 m. w. N.). Anhaltspunkte dafür, dass dies vorliegend ausnahmsweise der Fall gewesen sein könnte, trägt der Kläger nicht vor. Sie sind auch nicht ersichtlich, denn die im Urteil in Bezug auf die beiden ausdrücklich erwähnten Verfahrensfehler (Bearbeitung durch den angeblich unzuständigen Berichterstatter sowie Zitierung nach dem Juris-Portal) gegebene Begründung − derartige Verfahrensfehler seien im Berufungsverfahren unbeachtlich, weil der Senat als Tatsacheninstanz den Streitfall gemäß § 128 Satz 1 VwGO in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig prüfe (vgl. UA S. 9) − gilt gleichermaßen für den nicht ausdrücklich erwähnten Gehörsverstoß (vgl. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 30. Aufl. 2024, § 132 Rn. 21a, § 138 Rn. 18, jeweils m. w. N.).
14 c) Soweit die Beschwerde vorbringt, das Oberverwaltungsgericht habe "die Rechtsausführungen des Klägers in wesentlichem Umfange (und entscheidungserheblich) unbeachtet gelassen" und hierzu verschiedene seiner vermeintlich übergangenen Argumente auflistet und näher umschreibt (vgl. Beschwerdebegründung S. 2 - 4), verkennt sie erneut den Prüfungsmaßstab für das Vorliegen eines Gehörsverstoßes. Wie bereits ausgeführt, muss sich das Gericht nicht mit jedem vorgebrachten Gesichtspunkt ausdrücklich befassen. Es genügt vielmehr, dass es auf das zentrale Vorbringen eingeht. Das ist hier geschehen, denn mit dem vom Kläger selbst (vgl. Beschwerdebegründung vom 8. Oktober 2024 S. 2) als "Kern des Vorbringens" bezeichneten Argument, die Verwendung des Quadratwurzelmaßstabs verwische den rechtlichen Unterschied zwischen Benutzungsgebühren und Beiträgen, hat sich das Gericht auseinandergesetzt (vgl. UA S. 16 oben zum Begriff des Vorteils und zur Abgrenzung von Gebühren und Beiträgen). Aus dem Umstand, dass das Oberverwaltungsgericht dem klägerischen Vorbringen in der Sache nicht gefolgt ist, kann kein Gehörsverstoß abgeleitet werden.
15 d) Die Beschwerde legt schließlich nicht dar, dass ein unzulässiges Überraschungsurteil vorliegt.
16 Der Kläger trägt insoweit vor, das Oberverwaltungsgericht habe sich im angegriffenen Urteil − wie schon das Verwaltungsgericht − überraschend auf "die Senatsurteile vom 30.1.2017 mit den Aktenzeichen 9 LB 194 und 214/16" gestützt; damit habe er nicht rechnen können, nachdem er sich zuvor schriftsätzlich kritisch zu diesen Beschlüssen geäußert habe. Mit diesem Vorbringen wird kein Verfahrensfehler aufgezeigt. Denn ein Überraschungsurteil liegt nur dann vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der alle oder einzelne Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 30. Juli 2020 - 9 B 63.19 - juris Rn. 8). Hiervon kann keine Rede sein. Die Entscheidungen waren, was der Kläger selbst einräumt, bereits Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Urteils, wurden also gerade nicht überraschend einbezogen.
17 Ebenso wenig liegt ein Überraschungsurteil deshalb vor, weil der Kläger nicht damit rechnen konnte, dass "sein gesamtes Vorbringen unberücksichtigt bleiben sollte". Insoweit wird auf die Ausführungen unter c) Bezug genommen.