Beschluss vom 15.08.2023 -
BVerwG 9 B 9.23ECLI:DE:BVerwG:2023:150823B9B9.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 15.08.2023 - 9 B 9.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:150823B9B9.23.0]

Beschluss

BVerwG 9 B 9.23

  • VG Schwerin - 06.11.2014 - AZ: 4 A 493/11
  • OVG Greifswald - 10.05.2022 - AZ: 3 LB 14/15

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. August 2023
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Steinkühler, Dr. Martini
und Dr. Dieterich
beschlossen:

  1. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 10. Mai 2022 wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 286,23 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde ist unzulässig. Sie ist innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist nicht in einer den Anforderungen von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise begründet worden. Ein Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 VwGO ist der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen. Da die Beschwerdebegründung der Frist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO unterliegt, kann die Ankündigung einer weiteren Stellungnahme im Schriftsatz vom 15. August 2023 der Beschwerde nicht zur Zulässigkeit verhelfen.

2 1. Nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO muss in der Begründung die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden. Die für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erforderliche grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Eine den Anforderungen von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügende Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung setzt daher die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14 und vom 21. Februar 2023 - 9 B 1.23 - juris Rn. 3).

3 Ein Verfahrensmangel ist nur dann den Anforderungen von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn vermeintlich begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14 und vom 21. Februar 2023 - 9 B 1.23 - juris Rn. 5).

4 2. Die Beschwerde formuliert keine bundesrechtliche Frage von grundsätzlicher Bedeutung, sondern erschöpft sich in der Kritik an der tatsächlichen und rechtlichen Würdigung des Berufungsgerichts. Soweit sie geltend macht, die Frage der Anwendung und Überleitung des damaligen DDR-Straßenrechts in Verbindung mit dem Straßen- und Wegerecht des Landes Mecklenburg-Vorpommern habe eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung für Städte und Gemeinden des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern, fehlt es bereits an der Benennung einer konkreten Rechtsfrage des Bundesrechts. Die Beschwerde übersieht schon im Ansatz, dass eine Revision, deren Zulassung begehrt wird, gemäß § 137 Abs. 1 VwGO nur darauf gestützt werden könnte, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht oder einer Vorschrift des mit Bundesrecht übereinstimmenden Verwaltungsverfahrensgesetzes eines Landes beruht. Eine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung für Städte und Gemeinden eines Bundeslandes im Hinblick auf die Anwendung des Landesstraßenrechts kann demgegenüber von vornherein nicht genügen.

5 Die Beschwerde legt auch keinen Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) dar. Sie bezeichnet bereits keine Vorschriften oder Grundsätze des Prozessrechts, gegen die das Berufungsgericht bei seiner Entscheidungsfindung verstoßen haben soll. Sie macht lediglich geltend, das Berufungsgericht habe Beweismittel nicht oder fehlerhaft bewertet, habe fehlerhaft angenommen, dass der Kläger die Öffentlichkeit des Weges beweisen müsse, die Würdigung einer Zeugenaussage sei aus dem Kontext des Verhandlungsprotokolls gerissen und das Gericht habe nicht bewertet, dass alle Zeugen ein breites Spektrum an Nutzern des Verbindungswegs benannt hätten. Schließlich rügt die Beschwerde das Unterbleiben eines richterlichen Hinweises. Die für die Darlegung eines Verfahrensmangels erforderliche rechtliche Würdigung der behaupteten Fehler ist der Beschwerdebegründung indes nicht zu entnehmen.

6 Soweit mit den erstgenannten Beanstandungen Verstöße gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gemeint sein sollten, lägen sie nicht vor.

7 Der Überzeugungsgrundsatz verlangt, dass das Gericht seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt. Es darf nicht einzelne erhebliche Tatsachen oder Beweisergebnisse aus seiner Würdigung ausblenden. Im Übrigen darf es zu seiner Überzeugungsbildung die ihm vorliegenden Tatsachen und Beweise frei würdigen. Die Einhaltung der verfahrensrechtlichen Grenzen zulässiger Sachverhalts- und Beweiswürdigung ist deshalb nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter das vorliegende Tatsachenmaterial anders würdigt oder aus ihm andere Schlüsse ziehen will als das Gericht. Diese Grenzen sind erst dann überschritten, wenn dieses nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen tatsächlichen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen. Die Beweiswürdigung des Tatsachengerichts darf vom Revisionsgericht nicht daraufhin überprüft werden, ob sie überzeugend ist, ob festgestellte Einzelumstände mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die abschließende Würdigung des Sachverhalts eingegangen sind und ob solche Einzelumstände ausreichen, die Würdigung zu tragen. Solche Fehler sind revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen und können einen Verfahrensmangel deshalb grundsätzlich nicht begründen (stRspr, s. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 26. November 2013 - 8 B 20.13 - ZOV 2014, 48 Rn. 14 und vom 12. Februar 2020 - 9 B 30.19 - juris Rn. 3).

8 Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz nicht dargetan. Das Berufungsgericht geht davon aus, dass die Darlegungs- und Beweislast für die Frage der Öffentlichkeit der Straße derjenige trägt, der sich auf diesen Umstand beruft; bei der Würdigung von Indizien könne im Zweifel nicht von der Existenz eines öffentlichen Weges ausgegangen werden, wenn nicht das Gericht die volle Überzeugung vom Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen gewonnen habe (UA S. 12). Die Beschwerde legt nicht dar, dass diese Überzeugungsbildung die verfahrensrechtlichen Grenzen zulässiger Sachverhalts- und Beweiswürdigung überschreitet. Sie setzt sich mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Kammerbeschluss vom 15. April 2009 - 1 BvR 3478/08 - NVwZ 2009, 1158 <1161> und des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 31. Mai 2018 - 9 B 39.17 - juris Rn. 12) zu Fällen der sogenannten unvordenklichen Verjährung, auf die das Berufungsgericht seine Annahmen zur Beweislast stützt, nicht auseinander.

9 Soweit der Kläger eine aus dem Zusammenhang gerissene Würdigung der Aussage des Zeugen D. beanstandet, kann dem nicht gefolgt werden. Das Berufungsgericht legt zugrunde, dass die Familie des Zeugen den Verbindungsweg genutzt hat, um eine an der Straße A. gelegene Ackerfläche zu erreichen, und der Zeuge sich nicht an eine Nutzung des Verbindungswegs durch andere Personen erinnern kann (UA S. 12 f.). Das entspricht der protokollierten Aussage des Zeugen in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts Schwerin vom 6. November 2014. Das Berufungsgericht hat nicht - die Aussage verzerrend - angenommen, der Zeuge habe lediglich eine Nutzung als Anlieger bekundet, sondern geht davon aus, dass die Familie des Zeugen den Weg als Verbindungsweg zu ihrer an einer anderen Straße gelegenen Ackerfläche genutzt hat.

10 Auch das Vorbringen, das Gericht habe versäumt zu bewerten, dass alle Zeugen ein breites Spektrum an Nutzergruppen benannt hätten, die den Verbindungsweg genutzt haben, was für eine öffentliche Widmung spreche, zeigt keinen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz auf. Das Gericht hat die Aussagen aller Zeugen zur Nutzung des Verbindungswegs gewürdigt. Dass ihm dabei nach Maßgabe obiger Grundsätze ein Verfahrensmangel unterlaufen ist, legt die Beschwerde nicht dar. Sie wendet sich vielmehr dagegen, dass das Gericht das verwertete Tatsachenmaterial anders würdigt, als sie es für richtig hält.

11 Soweit schließlich mit dem Vorbringen, das Gericht habe es im Hinblick auf den Vortrag zum Vorhandensein des Verbindungswegs in dem Stadtplan W. aus dem Jahr 1986 unterlassen, richterliche Hinweise zu erteilen und den Kläger erst im Urteil mit der gerichtlichen Würdigung seines Sachvortrags konfrontiert, in der Sache eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) geltend gemacht werden sollte, könnte dem nicht gefolgt werden.

12 Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs soll sicherstellen, dass ein Verfahrensbeteiligter Einfluss auf den Gang des gerichtlichen Verfahrens und dessen Ausgang nehmen kann. Zu diesem Zweck muss er Gelegenheit erhalten, sich zu allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu äußern, die entscheidungserheblich sein können. Mit diesem Äußerungsrecht korrespondiert aber keine umfassende Hinweispflicht des Gerichts. Der Schutz vor einer Überraschungsentscheidung verlangt allerdings, dass das Gericht nicht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <144 f.>; BVerwG, Beschluss vom 28. Juli 2022 - 7 B 15.21 - NVwZ 2022, 1634 Rn. 39).

13 Nach Maßgabe dieser Grundsätze war das Gericht zu keinem Hinweis verpflichtet, wie es die Aufnahme des Verbindungswegs in den Stadtplan W. würdigen wird. Die Würdigung des Beteiligtenvorbringens ist originärer Gegenstand der Beratung und Urteilsfindung des Gerichts, es besteht grundsätzlich keine Verpflichtung, eine Würdigung vorab den Beteiligten mitzuteilen. Der Kläger musste hier insbesondere damit rechnen, dass das Berufungsgericht die Vorschriften des § 3 Abs. 2 Satz 1 der Straßenwesenverordnung der DDR aus dem Jahre 1957 bzw. § 4 Abs. 1 der Straßenverordnung der DDR aus dem Jahr 1974 für die Würdigung heranziehen wird, weil diese Vorschriften bereits Gegenstand des erstinstanzlichen Urteils waren (UA S. 11) und der Kläger selbst im Schriftsatz vom 8. Juni 2021 auf straßenrechtliche Regelungen der DDR Bezug genommen hat. Dementsprechend musste das Gericht auch keinen Hinweis bzgl. der Frage des Vorhandenseins eines Gehweges erteilen, nachdem diese bereits vom Verwaltungsgericht verneint worden war. Dieses hat zudem auf die mögliche Indizwirkung einer Straßenentwässerungseinrichtung und den fehlenden Vortrag der Beteiligten hierzu hingewiesen.

14 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren auf § 52 Abs. 3 Satz 2 GKG.