Beschluss vom 07.11.2022 -
BVerwG 1 B 66.22ECLI:DE:BVerwG:2022:071122B1B66.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 07.11.2022 - 1 B 66.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:071122B1B66.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 66.22

  • VG Osnabrück - 08.11.2018 - AZ: 7 A 357/17
  • OVG Lüneburg - 06.07.2022 - AZ: 2 LB 213/21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. November 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.
  2. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 6. Juli 2022 wird verworfen.
  3. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I

1 Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i. V. m. §§ 114, 121 Abs. 1 ZPO).

II

2 Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist wegen Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist nach § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO unzulässig. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat keinen Erfolg, da die Voraussetzungen des § 60 VwGO nicht erfüllt sind.

3 1. Die Frist zur Begründung der Beschwerde endete gemäß § 133 Abs. 3 Satz 1, § 57 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 222 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 188 Abs. 2 BGB am 6. September 2022, da ausweislich des in der Gerichtsakte befindlichen Empfangsbekenntnisses des Prozessbevollmächtigten des Klägers diesem eine Ausfertigung des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts vom 6. Juli 2022 am gleichen Tag zugestellt worden ist. Die Beschwerdebegründung ist erst am 14. September 2022 bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht eingegangen.

4 2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist dem Kläger nicht zu gewähren, weil sein Prozessbevollmächtigter, dessen Verschulden sich der Kläger wie eigenes Verschulden zurechnen lassen muss (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO), nicht ohne Verschulden verhindert war, die gesetzliche Beschwerdebegründungsfrist einzuhalten (vgl. § 60 Abs. 1 VwGO).

5 a) Die Wahrung prozessualer Fristen zählt zu den wesentlichen Aufgaben eines Prozessbevollmächtigten, denen er besondere Sorgfalt widmen muss. Diese besondere Sorgfaltspflicht erfordert eine eigenverantwortliche Überwachung der Fristen. Zwar darf er die Notierung, Berechnung und Kontrolle der üblichen Fristen in Rechtsmittelsachen, die in seiner Praxis häufig vorkommen und deren Berechnung keine Schwierigkeiten macht, gut ausgebildetem und sorgfältig beaufsichtigtem Büropersonal überlassen. Zu diesen üblichen Fristen zählen allerdings in Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zu beachtende Rechtsmittelbegründungsfristen, so auch die Beschwerdebegründungsfrist nach § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO, grundsätzlich nicht, da diese Rechtsmittelverfahren keine Routineangelegenheiten darstellen. Überlässt ein Rechtsanwalt die Notierung, Berechnung und Überwachung der üblichen und in seiner Praxis häufig vorkommenden Fristen in Rechtsmittelsachen gleichwohl seinem Büropersonal, so hat er in jedem Fall den Ablauf auch der Rechtsmittelbegründungsfrist eigenverantwortlich zu überprüfen, wenn ihm die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt werden. Von dieser Verpflichtung können auch Anweisungen an das Büropersonal bezüglich der Fristwahrung nicht befreien (BVerwG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 - 3 B 68.05 - BeckRS 2006, 20600 Rn. 6 m. w. N.).

6 Diese Verpflichtung zur eigenverantwortlichen Prüfung des Ablaufs der Begründungsfrist bei Vorlage der Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht ausreichend wahrgenommen. Eine entsprechende Prüfung, ob der Ablauf der Begründungsfrist korrekt notiert ist, hätte bei Gelegenheit der am 8. August 2022 erfolgten Erhebung der Nichtzulassungsbeschwerde erfolgen müssen.

7 Wäre eine solche Prüfung mit der gebotenen Sorgfalt erfolgt, so hätte diese ergeben, dass die Begründungsfrist nicht im Kalender eingetragen worden war. Infolge der Verletzung seiner Sorgfaltspflichten hat der Prozessbevollmächtigte die unterbliebene Notierung der Begründungsfrist und deren Ablauf am 6. September 2022 nicht erkannt und die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde versäumt. Darin ist ein schuldhaftes Verhalten im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO zu sehen, das es ausschließt, dem Wiedereinsetzungsantrag zu entsprechen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 - 3 B 68.05 - BeckRS 2006, 20600 Rn. 6 m. w. N.).

8 b) Davon abgesehen fällt dem Prozessbevollmächtigten des Klägers auch ein Organisationsverschulden zur Last, weil er es unterlassen hat, seine Kanzleikräfte allgemein anzuweisen, bei Fristen zur Rechtsmittelbegründung eine Vorfrist zu notieren.

9 Zur ordnungsgemäßen Organisation einer Anwaltskanzlei zählt die allgemeine Anordnung, dass bei Rechtsmittelbegründungen außer dem Datum des Fristablaufs eine Vorfrist von grundsätzlich etwa einer Woche zu notieren ist. Die Vorfrist dient dem Zweck, dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt zu ermöglichen, sich rechtzeitig auf die vorstehende Fertigung der Rechtsmittelbegründung einzustellen und den für die Bearbeitung der Rechtsmittelbegründung erforderlichen Zeitraum zu gewährleisten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. April 2019 - 2 B 1.19 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 288 Rn. 11 m. w. N.).

III

10 Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) (1.) und auf Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) (2.) gestützte Beschwerde war überdies auch deshalb zu verwerfen, weil ihre Begründung nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entspricht.

11 1. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

12 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m. w. N.).

13 Nach diesen Grundsätzen ist die Revision nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfragen zuzulassen,
"Welche Anforderungen sind an die Annahme einer 'starken Vermutung' [vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2020 - C-238/19] für eine Verknüpfung zwischen der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) genannten Voraussetzungen mit einem der in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 3 i.V.m. § 3b AsylG) genannten Verfolgungsgründe - sowie deren Widerlegung - zu stellen und welche Bedeutung kommt einer solchen 'starken Vermutung' im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zu?"
und
"Ist im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH vom 19.11.2020 - C-238/19 - mit einer starken Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes im Sinne des Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU an einen der Verfolgungsgründe aus Art. 10 RL 2011/95/EU anknüpfen entweder hinsichtlich der Überzeugungsbildung gem. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO oder hinsichtlich der Verteilung der Beweislast im Bereich des Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ein von der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG schutzorientiert ein abweichender Maßstab dahingehend anzuwenden, dass eine Versagung der Flüchtlingseigenschaft gegen diese 'starke Vermutung' nur möglich ist, wenn diese nach Überzeugung des Tatrichters vollständig widerlegt ist, verbleibende Zweifel also zur Schutzgewährung führen ('benefit of doubt') bzw. die Last der Nichterweislichkeit oder eines Nonliquet der Beklagten zufällt und ist dieser für den Schutzsuchenden günstigere Maßstab neben der Feststellung der Konnexität auch bei der Feststellung der Gefahr der Verfolgungshandlung und des Bestehens des Verfolgungsgrundes anzulegen?",
weil deren Entscheidungserheblichkeit schon nicht dargelegt ist (§ 133 Abs. 3 VwGO).

14 Das Berufungsgericht hat - wie sich auch aus der Bezugnahme auf sein Urteil vom 22. April 2021 (- 2 LB 408/20 -) erschließt (BA S. 6, 7) – zwar offengelassen, ob Wehrdienstentziehern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG drohe, weil es an der gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG fehle (OVG Lüneburg, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 408/20 - S. 21), weil nach der aktuellen Erkenntnislage eine Verfolgung wegen einer mit Blick auf die Wehrdienstentziehung zugeschriebenen oppositionellen politischen Haltung (§ 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG) (ebd. S. 21 bis 27) oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) (OVG Lüneburg, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 408/20 - S. 27 bis 29) nicht zu besorgen sei; auch liege eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Wehrdienstentziehung unter Berücksichtigung des in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG aufgenommenen Regelbeispiels einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG nicht vor, weil nach dem aktuellen Stand des Konflikt- bzw. Kriegsgeschehens die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG im Falle des Wehr- bzw. Reservedienstes in der syrischen Armee nicht (mehr) als erfüllt anzusehen seien (OVG Lüneburg, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 408/20 - S. 30 bis 34). Mit dieser, die Entscheidung insoweit selbständig tragenden tatrichterlichen Bewertung setzt sich die Beschwerde nicht substantiiert auseinander. Entgegen ihrer Auffassung bezieht sich die vom Gerichtshof postulierte "starke Vermutung" nicht auf die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG als solche; dass der Militärdienst in einem Konflikt Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, ist deshalb unabhängig von einer Vermutung festzustellen. Die aufgeworfene Grundsatzfrage setzt indes das - vom Berufungsgericht gerade verneinte - Vorliegen einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG als gegeben voraus und bezieht sich allein auf die weitere, die Entscheidung ebenfalls selbständig tragende Erwägung ("unabhängig von den vorstehenden Ausführungen [...]"), dass die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG auch deshalb nicht vorlägen, weil es an der erforderlichen Verknüpfung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund fehle (ebd. S. 34). Entgegen der Annahme der Beschwerdebegründung lassen die Entscheidungsgründe des Berufungsbeschlusses nicht erkennen, dass das Oberverwaltungsgericht die Anforderungen an die nötige Überzeugungsgewissheit hinsichtlich der Verneinung des Vorliegens einer Verfolgungshandlung verfehlt.

15 Unabhängig davon fehlt es auch insoweit an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit, weil das Berufungsgericht die (geänderten) tatsächlichen Verhältnisse (im Ergebnis abweichend von der Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 - 3 B 109.18 - juris) dahin gewürdigt hat, dass die vom Gerichtshof der Europäischen Union postulierte "starke Vermutung" eines Konnexes von (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund als widerlegt anzusehen sei. Keine andere Beurteilung rechtfertigt daher, dass der Senat mit Beschluss vom 20. Juli 2021 - 1 B 26.21 (1 C 21.21 ) - gegen das vom Berufungsgericht benannte Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zur Klärung der Frage zugelassen hat,
"welche Anforderungen an die Annahme einer 'starken Vermutung' (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - RN. 57) für eine Verknüpfung zwischen der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) genannten Voraussetzungen mit einem der in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 3 i.V.m. § 3b AsylG) genannten Verfolgungsgründe - sowie deren Widerlegung - zu stellen sind und welche Bedeutung einer solchen 'starken Vermutung' im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zukommt."

16 Denn insoweit sind hier nicht Fragen des rechtlichen Maßstabes, sondern der tatrichterlichen Bewertung betroffen.

17 2. Ein Verfahrensfehler, der zur Zulassung der Revision führte (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), ist ebenfalls nicht im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet.

18 2.1 Dies gilt zunächst, soweit die Beschwerde einen Verfahrensmangel und zugleich eine Gehörsverletzung darin sieht, dass das Berufungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Beschlussverfahren gemäß § 130a VwGO entschieden habe.

19 Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören (§ 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Ist das sich auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung beziehende Einstimmigkeitserfordernis erfüllt, steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, im Ermessen des Gerichts. Die Grenzen des dem Berufungsgericht eingeräumten Ermessens sind weit gezogen (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 11 m. w. N.). Mit dem Grad der Schwierigkeit der Rechtssache wächst auch das Gewicht der Gründe, die gegen die Anwendung des § 130a VwGO und für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sprechen. Die Grenzen von § 130a Satz 1 VwGO sind erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 12 m. w. N.).

20 Daran gemessen ist nicht dargelegt, dass die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens nach § 130a VwGO hier ermessensfehlerhaft gewesen sei.

21 a) Das Berufungsgericht hat die Beteiligten zu seiner Absicht, durch Beschluss nach § 130a VwGO zulasten des Klägers zu entscheiden, mit Verfügung vom 31. März 2022 vorab gehört. Dabei hat es auf seine im April 2021 ergangenen Urteile Bezug genommen, nach denen syrischen Staatsangehörigen, die sich als Rekruten oder Reservisten durch Flucht ins Ausland dem Wehrdienst entzogen haben, nicht aufgrund einer deshalb unterstellten oppositionellen Gesinnung politische Verfolgung durch den syrischen Staat drohe und ebenso wenig mit der Ableistung des Wehrdienstes in der syrischen Armee für nach Syrien zurückkehrende Wehrpflichtige in der Regel eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung an Kriegsverbrechen verbunden sei. Das Gericht hat ausdrücklich mitgeteilt, es sei beabsichtigt, dem Berufungsbegehren der Beklagten zu entsprechen. Der Kläger hat sich in seiner Stellungnahme die Gründe des Urteils des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 23. März 2022 - 1 LB 484/21 - zu eigen gemacht, dem das Berufungsgericht bereits mit Urteil vom 11. Mai 2022 - 2 LB 52/22 - entgegengetreten ist. Damit bestand für das Berufungsgericht kein Anlass, von einer Entscheidung nach § 130a VwGO abzusehen oder die Ermessensentscheidung über das Absehen zu ergänzen. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach dann keine neue mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 [ECLI:​EU:​C:​2017:​591], Moussa Sacko - Rn. 47 m. w. N.). Für die Berufungsinstanz gelten jedenfalls keine strengeren Maßstäbe (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 29. Oktober 1991 - Nr. 22/1990/213/275, Helmers - NJW 1992, 1813).

22 b) Ebenso wenig gebot Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK vorliegend die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Norm findet auf den vorliegenden Rechtsstreit keine direkte Anwendung (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 15 m. w. N.). Davon unberührt bleibt, dass die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Anforderungen bei konventionskonformer Anwendung im Rahmen der Ermessensausübung nach § 130a VwGO vom Berufungsgericht zu berücksichtigen sind.

23 c) Das nach nationalem Recht in konventionskonformer Auslegung eröffnete Ermessen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, war hier auch nicht mit Blick auf Unionsrecht eingeschränkt oder ausgeschlossen. Weder Art. 46 RL 2013/32/EU noch Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC oder eine andere Bestimmung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sehen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem mit dem Rechtsbehelf befassten Gericht zwingend vor. Jedenfalls dann, wenn das Gericht der Auffassung ist, dass es seiner Verpflichtung zur umfassenden ex-nunc-Prüfung des Rechtsbehelfs nach Art. 46 Abs. 3 RL 2013/32/EU allein auf der Grundlage des Akteninhalts einschließlich der Niederschrift oder des Wortprotokolls der persönlichen Anhörung des Antragstellers nachkommen kann, kann es die Entscheidung treffen, den Antragsteller im Rahmen des Rechtsbehelfs nicht anzuhören und von einer mündlichen Verhandlung abzusehen (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 16 m. w. N.). Davon ausgehend hat die Beschwerde keine Gründe aufgezeigt, aus denen das Berufungsgericht aus unionsrechtlichen Gesichtspunkten verpflichtet gewesen wäre, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

24 d) Das Ermessen des Berufungsgerichts, im vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130a VwGO zu entscheiden, war auch nicht dadurch eingeschränkt, dass bereits die Entscheidung des Verwaltungsgerichts mit Zustimmung der Beteiligten (und damit ohne den Beteiligten die Möglichkeit des persönlichen Vortrages zu nehmen) ohne mündliche Verhandlung ergangen ist.

25 Zwar verlangt die bei der Ermessensausübung zu beachtende Regelung des Art. 6 Abs. 1 EMRK nach der ständigen, auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Beteiligten im gerichtlichen Verfahren mindestens einmal die Gelegenheit erhalten, zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen. Wenn die Beteiligten in der ersten Instanz Gelegenheit zu einer mündlichen Verhandlung hatten und sie freiwillig und ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO), steht dem Berufungsgericht die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss nach § 130a VwGO aber grundsätzlich offen. Auf die Gründe, aus denen ein Beteiligter von der ihm in erster Instanz jedenfalls eröffneten Möglichkeit, in einer mündlichen Verhandlung persönlich zur Sache vorzutragen, keinen Gebrauch gemacht hat, kommt es dabei nicht an (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 19 m. w. N.).

26 e) Allein aus dem Umstand, dass aus der Sicht des Klägers eine schwierige Sach- und Tatsachenlage bestehe und weiterhin von einer volatilen und unklaren Tatsachenlage in Syrien auszugehen sei, sodass vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts tagesaktuelle Erkenntnisse heranzuziehen seien, folgt nicht die Notwendigkeit der Durchführung gerade auch einer mündlichen Verhandlung; dass das Berufungsgericht von einer nicht hinreichend aktuellen Erkenntnislage ausgegangen sei, legt die Beschwerde nicht einmal ansatzweise dar.

27 2.2 Die Rüge, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO sei verletzt, "weil die richterliche Überzeugungsbildung einschließlich der Sachverhalts- und Beweiswürdigung in nicht unionsrechtskonformer Weise erfolgt" sei, da das Berufungsgericht im Gegensatz zum Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Notwendigkeit einer besonderen Behandlung genau dieses Sachverhaltes bei der richterlichen Überzeugungsbildung und Beweiswürdigung vor dem Hintergrund des Unionsrechts verkannt habe, legt schon im Ansatz einen Verfahrensfehler nicht dar.

28 Denn Grundsätze der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind in aller Regel revisionsrechtlich dem sachlichen Recht zuzuordnen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 <272> und Beschluss vom 4. Mai 2020 - 1 B 17.20 - juris Rn. 4). Ein einen Verfahrensfehler begründender Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung ("Überzeugungsgrundsatz") im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann ausnahmsweise insbesondere dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (BVerwG, Beschluss vom 25. April 2018 - 1 B 11.18 - juris Rn. 3 m. w. N.; zum Übergehen eines nach der Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserheblichen Akteninhalts oder zur Annahme aktenwidriger Tatsachen sowie denkgesetzwidriger Schlussfolgerungen s. a. BVerwG, Beschlüsse vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 58 Rn. 20 und vom 5. Oktober 2021 - 1 B 63.21 - juris Rn. 9). Dies wird mit der Rüge eines falschen Prüfungsmaßstabes und der damit vorgelagerten Rechtsfrage, welcher Maßstab zugrunde zu legen sei, nicht geltend gemacht (vgl. zum Ganzen auch bereits BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 21 ff.).

29 Unabhängig davon bezöge sich dieser Verfahrensfehler - seine im Übrigen hinreichend substantiierte Bezeichnung unterstellt - ebenfalls auf die Frage eines Zusammenhanges von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund und nicht auf die selbständig tragende Verneinung einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG.

30 2.3 Soweit die Beschwerde darüber hinaus eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) geltend macht, so genügt die Begründung auch dieser Rüge nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.

31 Hierfür muss substantiiert dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, durch einen Beweisantrag oder jedenfalls eine sonstige Beweisanregung hingewirkt worden ist und die Ablehnung der Beweiserhebung im Prozessrecht keine Stütze findet, oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 15. Februar 2013 - 8 B 58.12 - ZOV 2013, 40 und vom 12. Juli 2018 - 7 B 15.17 - juris Rn. 23).

32 Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung ersichtlich nicht gerecht. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass der Kläger durch einen Beweisantrag oder eine hinreichend bestimmte Beweisanregung im Berufungsverfahren auf eine Beweiserhebung hingewirkt hätte oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Berufungsgericht eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen.

33 2.4 Den Bezeichnungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt auch nicht die Rüge einer Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gemäß § 96 Abs. 1 VwGO.

34 Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gebietet es nicht stets und ausnahmslos, einen Kläger persönlich anzuhören. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht der Umfang der erforderlichen Beweiserhebung grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts. Nicht gegeben ist hier der Fall, dass das Berufungsgericht an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellung der Vorinstanz oder anderer Vorentscheidungen zweifelt, es insbesondere die Glaubwürdigkeit abweichend beurteilen will (dazu BVerwG, Beschlüsse vom 10. Mai 2002 - 1 B 392.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 259 S. 79 und vom 5. Juni 2013 - 5 B 11.13 - juris Rn. 12).

35 Die Beschwerde legt nicht dar, welche Bedeutung einer Ermittlung der Beweggründe des Klägers für die Entziehung von dem Militärdienst und der Hintergründe seiner pazifistischen Grundhaltung für die Prüfung des von dem Oberverwaltungsgericht verneinten Merkmals einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG beizumessen gewesen wäre.

36 3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

37 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.