Beschluss vom 25.01.2022 -
BVerwG 9 VR 2.21ECLI:DE:BVerwG:2022:250122B9VR2.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 25.01.2022 - 9 VR 2.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:250122B9VR2.21.0]

Beschluss

BVerwG 9 VR 2.21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. Januar 2022
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Bick und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Steinkühler und Dr. Martini
beschlossen:

  1. Das Verfahren wird eingestellt.
  2. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
  3. Der Wert des Streitgegenstands wird auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

1 1. Das Verfahren ist in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, nachdem die Beteiligten es mit Schriftsätzen vom 9. und 17. Dezember 2021 übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben.

2 2. Außerdem ist über die Kosten des Verfahrens gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO nach billigem Ermessen zu entscheiden. Dabei ist der bisherige Sach- und Streitstand zu berücksichtigen. Lässt sich der vermutliche Prozessausgang nicht ohne Weiteres übersehen, so entspricht es der Billigkeit, der Ungewissheit über den Verfahrensausgang dadurch Rechnung zu tragen, dass die Kosten im Sinne von § 155 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO gegeneinander aufgehoben werden (BVerwG, Beschlüsse vom 14. März 2008 - 9 VR 3.07 - Buchholz 310 § 80 VwGO Nr. 77 Rn. 5 und vom 7. April 2008 - 9 VR 6.07 - juris Rn. 1). So liegt es hier.

3 a) Der Antrag nach § 80b Abs. 2 VwGO war nicht bereits deshalb unstatthaft, weil die Antragstellerin, der erst nach Erhebung der Anfechtungsklage die Anerkennung zur Einlegung von Rechtsbehelfen nach § 3 UmwRG erteilt worden war, nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts bei Klageerhebung kein Verbandsklagerecht nach § 2 UmwRG innehatte. Denn selbst wenn die angefochtenen Planfeststellungsbeschlüsse aus diesem Grund der Antragstellerin gegenüber unanfechtbar gewesen wären und die mit der Anfechtungsklage verbundene aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO nicht hätte eintreten können (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Oktober 1992 - 7 C 24.92 - Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 175 S. 29 f. zu § 42 Abs. 2 VwGO), stünde dies der Statthaftigkeit des Antrags mangels offensichtlicher Unzulässigkeit des Rechtsbehelfs in der Hauptsache (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Januar 2018 - 1 VR 14.17 - Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 73 Rn. 23) nicht entgegen. Da das Verbandsklagerecht der Antragstellerin streitig und die Revision wegen der damit zusammenhängenden Frage der Vereinbarkeit von § 2 Abs. 1 und 2 UmwRG mit den Anforderungen des Europarechts zugelassen worden ist, sind vielmehr das Verbandsklagerecht und der Eintritt des Suspensiveffekts im vorliegenden Antragsverfahren zugunsten der Antragstellerin zu unterstellen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 2018 - 3 VR 1.17 - juris Rn. 12 zu § 42 Abs. 2 VwGO).

4 b) Bis zur Erklärung der Antragsgegnerin, die Planfeststellungsbeschlüsse würden bis zur abschließenden Entscheidung im Revisionsverfahren nicht vollzogen, war der Antrag nach § 80b Abs. 2 VwGO auch nicht mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig.

5 Ein Rechtsschutzbedürfnis bestand bereits deshalb, weil die Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung die Rechtsstellung der Antragstellerin verbessert hätte. Denn bei Ergehen der Anordnung wäre die Vollziehung der angefochtenen Planfeststellungsbeschlüsse weiterhin ausgeschlossen gewesen. Dass die Antragstellerin den Antrag nach § 80b Abs. 2 VwGO am 13. November 2021 vor dem Auslaufen der aufschiebenden Wirkung nach § 80b Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO am 13. Januar 2022 gestellt hatte, lässt das Rechtsschutzbedürfnis nicht entfallen. Denn die Stellung des Antrags auf Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung vor deren Ablauf ermöglicht es dem Gericht erst, die Anordnung im Einklang mit dem Wortlaut und dem Leitbild der gesetzlichen Regelung vor dem Ende der aufschiebenden Wirkung zu treffen (vgl. zur Zulässigkeit des Antrags nach Beendigung der aufschiebenden Wirkung BVerwG, Beschlüsse vom 19. Juni 2007 - 4 VR 2.07 - BVerwGE 129, 58 Rn. 13 und vom 13. August 2019 - 6 VR 3.19 - juris Rn. 10).

6 c) Des Weiteren hätte der Antrag auf Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung nicht allein deshalb Erfolg gehabt, weil die Revision im Hinblick auf die Frage der Europarechtskonformität von § 2 Abs. 1 und 2 UmwRG nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen worden war. Denn die auf diesen Zulassungsgrund gestützte Zulassung der Revision lässt als solche nicht den Schluss zu, dass die Klage voraussichtlich Erfolg haben wird. Der Ausgang des Revisionsverfahrens ist vielmehr offen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 2018 - 3 VR 1.17 - juris Rn. 19).

7 d) Der vermutliche Prozessausgang war nach dem Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt der Erledigung der Hauptsache auch im Übrigen nicht absehbar.

8 Die Erfolgsaussichten der Klage für den Fall, dass nach dem Ergebnis des Revisionsverfahrens ein Verbandsklagerecht der Antragstellerin bestünde, ließen sich nicht überblicken. Denn im Hinblick darauf, dass es die Klage als unzulässig abgewiesen hat, hat das Oberverwaltungsgericht insbesondere zu den vor allem geltend gemachten Verstößen gegen das Naturschutzrecht keine Feststellungen getroffen. Das Bundesverwaltungsgericht könnte daher nicht in der Sache selbst entscheiden, sondern müsste sie nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverweisen.

9 Auch das Ergebnis der im Rahmen der Entscheidung über den Antrag nach § 80b Abs. 2 VwGO erforderlichen Abwägung des Interesses der Antragstellerin an der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung einerseits und des Interesses des Antragsgegners an der sofortigen Vollziehung der Planfeststellungsbeschlüsse andererseits (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. September 2011 - 1 VR 1.11 - Buchholz 310 § 80b VwGO Nr. 3 Rn. 9) war zum Zeitpunkt der Hauptsacheerledigung nicht ohne Weiteres abzusehen. Denn dazu hätte es einer weiteren Ermittlung und Gewichtung der nach Ansicht der Antragstellerin durch den Vollzug der Planfeststellungsbeschlüsse irreversibel beeinträchtigten Naturschutzbelange und des Vollzugsinteresses des Antragsgegners bedurft, die nur mit zusätzlichem Aufwand zu leisten gewesen wäre.

10 e) Die Kosten sind auch nicht unabhängig von den Erfolgsaussichten des Antrags nach § 80b Abs. 2 VwGO deshalb dem Antragsgegner aufzuerlegen, weil er durch seine Erklärung, bis zur Entscheidung im Revisionsverfahren keine Vollzugsmaßnahmen durchzuführen, das erledigende Ereignis herbeigeführt hat. Denn durch diese Erklärung ermöglicht es der Antragsgegner dem Gericht, die Revision ohne den Zeitdruck drohender Vollziehungsmaßnahmen zu prüfen. Es entspräche deshalb nicht der Billigkeit, dies einseitig zu seinen Lasten zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. April 2008 - 9 VR 6.07 - juris Rn. 1). Das gilt umso mehr, als die aufschiebende Wirkung zum Zeitpunkt der Antragstellung am 13. November 2021 nach § 80b Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO noch zwei Monate fortdauerte. Denn der Antragsgegner hatte jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch keine Veranlassung, auf das Unterbleiben von Vollziehungsmaßnahmen hinzuweisen oder die Vollziehung deshalb von Amts wegen auszusetzen, weil absehbar war, dass der Vorhabenträger bis zu dem voraussichtlichen Entscheidungstermin in der Hauptsache keine Vollzugsmaßnahmen in Betracht ziehen würde (vgl. zu einer solchen Verpflichtung BVerwG, Beschlüsse vom 17. September 2001 - 4 VR 19.01 - Buchholz 310 § 80 VwGO Nr. 66 S. 3 f. und vom 13. Juni 2013 - 9 VR 2.13 - Buchholz 310 § 80 VwGO Nr. 89 Rn. 2).

11 f) Entgegen der Ansicht des Antragsgegners entspricht es schließlich auch nicht billigem Ermessen, die Kosten des Verfahrens ungeachtet der Erfolgsaussichten im Hinblick darauf allein der Antragstellerin aufzuerlegen, dass die aufschiebende Wirkung noch bis 13. Januar 2022 fortbestand und der sich auf die Zeit danach beziehende Antrag nur durch die Einlegung der Revision und den während des Revisionsverfahrens eintretenden Wegfall der aufschiebenden Wirkung veranlasst wurde. Denn die Antragstellerin hat mit der Einlegung der Revision und der Stellung des Antrags nach § 80b Abs. 2 VwGO lediglich in zulässiger Weise von den ihr zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch gemacht.

12 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 39 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG.