Beschluss vom 27.01.2022 -
BVerwG 1 B 7.22ECLI:DE:BVerwG:2022:270122B1B7.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 27.01.2022 - 1 B 7.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:270122B1B7.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 7.22

  • VG Hannover - 18.06.2020 - AZ: 2 A 3439/18
  • OVG Lüneburg - 07.12.2021 - AZ: 10 LB 268/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Januar 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 7. Dezember 2021 wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg, weil sie nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt.

2 1. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - juris Rn. 2 und vom 10. März 2015 - 1 B 7.15 - juris Rn. 3). Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erstreckt sich auch auf die Entscheidungserheblichkeit des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes.

3 2. Die Beschwerde hat die Entscheidungserheblichkeit der als grundsätzlich klärungsbedürftig bezeichneten Frage,
"Gebietet der Schutz von Ehe und Familie aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK die Annahme eines - hypothetischen - gemeinsamen Familienlebens der Kernfamilie in Fällen, in denen dem Antragsteller der Flüchtlingsstatus in einem anderen EU-Staat gewährt wurde und sich die Familie nicht bei ihm, sondern in einem Drittstaat in einem Flüchtlingslager befindet?"
nicht dargelegt.

4 Unter Berücksichtigung des sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergebenden besonderen Schutzbedürfnisses für Kinder und der obergerichtlichen Rechtsprechung, wonach die Erwirtschaftung des Existenzminimums für eine Familie in Bulgarien nicht gesichert ist (UA S. 11 f.), geht das Oberverwaltungsgericht nach seinen, nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen davon aus, dass im Entscheidungszeitpunkt keine familiäre Gemeinschaft bestanden hat und der Kläger nicht im Familienverbund nach Bulgarien zurückkehrt (UA S. 13). Ausgehend von diesen, insoweit maßgeblichen Feststellungen der Vorinstanz (stRspr, BVerwG, Beschluss vom 29. März 1961 - 3 B 43.60 - Buchholz 427.3 § 339 LAG Nr. 120, S. 151) stellte sich die von der Beschwerde als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfene Frage in einem Revisionsverfahren nicht.

5 3. Soweit der Einwand der Beschwerde, die - dem Oberverwaltungsgericht unterstellte - Annahme, der Kläger sei alleinlebend und möchte nicht mit seiner Familie (in Bulgarien) zusammenleben, entbehre jeglicher Grundlage, auf die Geltendmachung eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) hindeutet, wäre auch dieser ungeachtet des Umstandes, dass er als solcher nicht (ausdrücklich) bezeichnet wurde, nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dargelegt.

6 a) Zum einen ist ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz und die Amtsaufklärungspflicht nicht dargelegt.

7 Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung einer Tatsacheninstanz ist der Beurteilung des Revisionsgerichts nur insoweit unterstellt, als es um Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geht. Rügefähig ist damit nicht das Ergebnis der Beweiswürdigung, sondern nur ein Verfahrensvorgang auf dem Weg dorthin. Ob das Gericht auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage entschieden hat (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist grundsätzlich eine dem materiellen Recht zuzuordnende Frage der Tatsachen- und Beweiswürdigung, auf die eine Verfahrensrüge nicht gestützt werden kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. November 2006 - 1 B 134.06 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 48 Rn. 4). Ein Verfahrensverstoß kommt ausnahmsweise dann in Betracht, wenn das angegriffene Urteil von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht. Das Gericht darf nicht in der Weise verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen oder Beweisergebnisse nicht in die rechtliche Würdigung einbezieht, insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen und deshalb seiner Überzeugungsbildung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt. In solchen Fällen fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts, auch wenn die darauf basierende rechtliche Würdigung als solche nicht zu beanstanden ist.

8 Die Beschwerde legt nicht dar, dass das Oberverwaltungsgericht von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt in Bezug auf die Rückkehrsituation des Klägers nach Bulgarien ausgegangen wäre. Sie bezweifelt insbesondere nicht substantiiert, dass der Kläger im Entscheidungszeitpunkt nicht mit seiner Familie, die seit acht Jahren getrennt vom Kläger in einem Flüchtlingslager im Libanon lebt, nach Bulgarien zurückkehrt oder dort alsbald nach der Rückkehr (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 22 f. m.w.N.) nicht zusammenleben wird.

9 b) Zum anderen ist die Feststellung und Bewertung der Erkenntnislage grundsätzlich Teil der dem materiellen Recht zuzuordnenden Sachverhalts- und Beweiswürdigung (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 <272>). Daher begründen (vermeintliche) Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts regelmäßig keinen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Ausnahmsweise kann ein solcher indes anzunehmen sein, wenn ein Gericht von einem aktenwidrigen Sachverhalt ausgeht (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 AufenthG Nr. 58 Rn. 23 m.w.N.). Ein einen Verfahrensfehler begründender Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann ausnahmsweise insbesondere dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (BVerwG, Beschluss vom 25. April 2018 - 1 B 11.18 - juris Rn. 3 m.w.N.). Diese Voraussetzungen legt die Beschwerde nicht ansatzweise dar.

10 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.