Beschluss vom 08.02.2023 -
BVerwG 1 B 62.22ECLI:DE:BVerwG:2023:080223B1B62.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 08.02.2023 - 1 B 62.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:080223B1B62.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 62.22

  • VG Aachen - 19.11.2021 - AZ: 9 K 1626/19.A
  • OVG Münster - 22.06.2022 - AZ: 11 A 100/22.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. Februar 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Juni 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

2 1. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

3 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m. w. N.).

4 Nach diesen Grundsätzen ist die Revision nicht wegen der in Bezug auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU) geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Fragen zuzulassen,
"in welchem Umfang Leistungen durch nichtstaatliche Hilfs- und Unterstützungsorganisationen auch im Zeitverlauf gesichert sein müssen, um bei der Gefahrenprognose staatliche Existenzsicherungsleistungen oder Eigenleistungen ergänzen oder ersetzen zu können,
und ferner
unter welchen Voraussetzungen derartige Unterstützungsleistungen unbeachtlich sind, etwa, weil sie sich auf Nothilfe in Ausnahmefällen und/oder für einen begrenzten Personenkreis beschränken, sie real nicht oder nur schwer erreichbar sind, die zu beachtlichen Einschränkungen der Unterstützungstätigkeit führen",
weil sie keine entscheidungserheblichen klärungsfähigen Rechtsfragen erkennen lassen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

5 Die Fragen betreffen vielmehr die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des Berufungsgerichts zu der Situation, denen Rückkehrer, die in Italien internationalen Schutz genießen, ausgesetzt sind, und zielen daher auf der tatrichterlichen Würdigung vorbehaltene Tatsachenfragen. Für die Zulassung der Revision reicht eine Tatsachenfrage von grundsätzlicher Bedeutung nicht aus. Die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen; auch der Umstand, dass das Ergebnis der zur Feststellung und Würdigung des Tatsachenstoffes berufenen Instanzgerichte für eine Vielzahl von Verfahren von Bedeutung ist, lässt für sich allein eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu.

6 Der Gesetzgeber hat auch für das gerichtliche Asylverfahren an den allgemeinen Grundsätzen des Revisionsrechts festgehalten und dem Bundesverwaltungsgericht anknüpfend an die Nichtzulassungsbeschwerde keine Befugnis eröffnet, Tatsachen(würdigungs)fragen von grundsätzlicher Bedeutung zu beantworten. Der zum 1. Januar 2023 in Kraft getretene § 78 Abs. 8 AsylG (BGBl. I S. 2817 <2822>) hat daran nichts geändert. Denn nach § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG steht den Beteiligten gegen das Urteil eines Oberverwaltungsgerichts die Revision abweichend von § 132 Abs. 1 und § 137 Abs. 1 VwGO nur zu, wenn das Oberverwaltungsgericht in der Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat von deren Beurteilung durch ein anderes Oberverwaltungsgericht oder durch das Bundesverwaltungsgericht abweicht und es die Revision deswegen zugelassen hat. Ausdrücklich heißt es in § 78 Abs. 8 Satz 2 AsylG ergänzend, dass eine Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund nicht gestützt werden kann.

7 2. Die Revision ist auch nicht wegen Verfahrensmängeln (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Die von der Beschwerde erhobenen Rügen gegen (a.) die Verletzung des Grundsatzes der richterlichen Überzeugungsbildung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und (b.) des Untersuchungsgrundsatzes gemäß § 86 Abs. 1 VwGO greifen nicht durch.

8 a) Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung einer Tatsacheninstanz ist der Beurteilung des Revisionsgerichts nur insoweit unterstellt, als es um Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geht. Rügefähig ist damit nicht das Ergebnis der Beweiswürdigung, sondern nur ein Verfahrensvorgang auf dem Weg dorthin. Ob das Gericht auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage entschieden hat (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist grundsätzlich eine dem materiellen Recht zuzuordnende Frage der Tatsachen- und Beweiswürdigung, auf die eine Verfahrensrüge nicht gestützt werden kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. November 2006 - 1 B 134.06 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 48 Rn. 4). Ein Verfahrensverstoß kommt ausnahmsweise dann in Betracht, wenn das angegriffene Urteil von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht. Das Gericht darf nicht in der Weise verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen oder Beweisergebnisse nicht in die rechtliche Würdigung einbezieht, insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen und deshalb seiner Überzeugungsbildung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt. In solchen Fällen fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts, auch wenn die darauf basierende rechtliche Würdigung als solche nicht zu beanstanden ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. März 2018 - 1 B 155.17 - juris Rn. 3 m. w. N.).

9 Das Oberverwaltungsgericht hat in Anknüpfung an die Feststellungen in seinem Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A - (juris Rn. 38 ff.) ausgeführt (BA S. 6 f.), es lägen keine Anhaltspunkte für die Annahme vor, der schutzberechtigte Kläger könne infolge seiner mehrjährigen Abwesenheit überhaupt noch einen Anspruch auf Aufnahme in einer Einrichtung des SAI-Systems haben oder einen solchen nach seiner Rückkehr nach Italien zeitnah durchsetzen, zumal ein ihm in Italien im Zusammenhang mit der Schutzgewährung erteilter italienischer Aufenthaltstitel inzwischen abgelaufen sein dürfte. Es sei auch in Ermangelung bestehender Vulnerabilitäten nicht ersichtlich, dass ihm auf einen entsprechenden Antrag beim "Servizio Centrale" ausnahmsweise die Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung bewilligt würde. Zudem bestünde die ernsthafte Gefahr, dass der Kläger weder auf dem freien und dem sozialen Wohnungsmarkt noch über NGO's in Italien menschenwürdig unterkomme.

10 Im Hinblick auf diese entscheidungstragenden Annahmen legt die Beschwerdebegründung nicht substantiiert dar, welche konkreten weiteren Sachaufklärungsmaßnahmen sich dem Berufungsgericht hätten aufdrängen müssen oder dass das Berufungsgericht erhebliche tatsächliche Informationen, die zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden waren, in seine Würdigung nicht einbezogen hätte. Vielmehr beschränkt sich die Beklagte darauf, die tatsächliche Würdigung des Sachverhalts durch das Berufungsgericht zu kritisieren und unter Hinweis auf abweichende Rechtsprechung - etwa des Oberverwaltungsgerichts Sachsen - Urteil vom 15. März 2022 - 4 A 506/19.A - und eigene Erkenntnismittel - etwa https://help.unhcr.org/italy/services/housing/ – durch eine eigene Tatsachenwürdigung zu ersetzen.

11 b) Eine Aufklärungsrüge nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO erfordert nach der ständigen Rechtsprechung des Senats zum einen die substantiierte Darlegung, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände aus der materiell-rechtlichen Sicht des Berufungsgerichts Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei der Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese bei Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Auffassung des Tatsachengerichts zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätten führen können. Zum anderen muss dargelegt werden, dass bereits im Berufungsverfahren, insbesondere in der mündlichen Berufungsverhandlung, auf die Sachverhaltsaufklärung, deren Unterlassen nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist, oder dass sich dem Berufungsgericht die Notwendigkeit der bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätte aufdrängen müssen. Die Aufklärungsrüge ist kein Mittel, um Versäumnisse eines anwaltlich vertretenen Beteiligten in der Tatsacheninstanz zu kompensieren, vor allem wenn er es - wie hier - unterlassen hat, einen Beweisantrag zu stellen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1969 - 6 C 52.65 - BVerwGE 31, 212 <217 f.> und Beschlüsse vom 13. Dezember 2021 - 2 B 1.21 - juris Rn. 21 und vom 15. November 2022 - 1 B 71.22 - juris Rn. 20).

12 Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass die Beklagte durch einen Beweisantrag oder eine hinreichend bestimmte Beweisanregung im Berufungsverfahren auf eine Beweiserhebung hingewirkt hätte oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Berufungsgericht eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen.

13 Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

14 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.