Beschluss vom 27.03.2023 -
BVerwG 1 B 72.22ECLI:DE:BVerwG:2023:270323B1B72.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 27.03.2023 - 1 B 72.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:270323B1B72.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 72.22

  • VG Arnsberg - 22.09.2020 - AZ: 5 K 2106/20.A
  • OVG Münster - 01.09.2022 - AZ: 11 A 2893/20.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. März 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 1. September 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die allein auf Verfahrensmängel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 1. Aus der Beschwerdebegründung des Klägers ergibt sich nicht, dass ein Verfahrensmangel vorliegt, auf dem die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts beruhen kann.

3 Ein Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (stRspr, BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14 f. und vom 15. Juli 2022 - 4 B 32.21 - juris Rn. 18). Das Bezeichnungserfordernis schließt die Darlegung der Entscheidungserheblichkeit ein (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Dezember 2021 - 1 B 62.21 - juris Rn. 2).

4 a) Die Beschwerde rügt zu Unrecht, ein Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liege darin, dass das Oberverwaltungsgericht ohne mündliche Berufungsverhandlung durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO entschieden habe. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass das Vorgehen nach § 130a VwGO verfahrensfehlerhaft gewesen ist und das Berufungsgericht damit gegen § 101 Abs. 1 i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen und zugleich das Recht des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO) verletzt hat (vgl. zu diesem Zusammenhang BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004 - 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <221>, Beschlüsse vom 24. September 2009 - 6 B 5.09 - Buchholz 442.066 § 55 TKG Nr. 2 S. 14 und vom 24. April 2017 - 6 B 17.17 - juris Rn. 9).

5 Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Berufungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach Satz 2 der Vorschrift gilt § 125 Abs. 2 Satz 3 bis 5 VwGO entsprechend. Den hieraus folgenden Anforderungen ist das Oberverwaltungsgericht gerecht geworden.

6 aa) Das Oberverwaltungsgericht hat dem aus § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO folgenden Anhörungserfordernis genügt.

7 Bei einem Vorgehen nach § 130a VwGO muss die Anhörungsmitteilung unmissverständlich erkennen lassen, wie das Berufungsgericht zu entscheiden beabsichtigt. Das gilt sowohl hinsichtlich der Verfahrensweise - ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss - als auch hinsichtlich der beabsichtigten Sachentscheidung - Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung; zu beiden Punkten muss den Beteiligten Gehör gewährt werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 2021 - 1 B 33.21 - juris Rn. 3). Dem genügte die Anhörungsmitteilung vom 9. August 2022. Aus ihr ergab sich eindeutig, dass das Berufungsgericht eine Entscheidung nach § 130a VwGO im Beschlusswege beabsichtigte und die Berufung für unbegründet hielt. Den Beteiligten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Der Umstand, dass die Mitteilung keine Gründe für die Beurteilung der Berufung als unbegründet enthielt, macht sie nicht fehlerhaft. In der Anhörungsmitteilung müssen weder die Gründe für die beabsichtigte Entscheidungsform noch die - vor der Schlussberatung ohnedies nur vorläufigen - Gründe für die beabsichtigte Entscheidung in der Sache angegeben werden (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 13. Dezember 1983 - 9 B 1387.82 - NVwZ 1984, 792 [zu Art. 2 § 5 EntlG] und vom 10. Dezember 2021 - 6 B 1.21 - juris Rn. 11 m. w. N.; Seibert, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 130a Rn. 22; Rudisile, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: August 2022, § 130a Rn. 9).

8 Anlass für eine weitere Anhörung der Beteiligten durch das Berufungsgericht hat nicht bestanden, weil kein Beteiligter auf die erste Anhörung hin einen Beweisantrag gestellt hat, der in mündlicher Verhandlung nach § 86 Abs. 2 VwGO beschieden werden müsste (BVerwG, Beschluss vom 19. April 1999 - 8 B 150.98 - NVwZ-RR, 1999, 537).

9 bb) Das Berufungsgericht hat des Weiteren ermessensfehlerfrei nach § 130a VwGO entschieden.

10 Ausweislich des Wortlauts des § 130a VwGO ("kann") steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, im Ermessen des Gerichts. Die Grenzen des dem Berufungsgericht eingeräumten Ermessens sind weit gezogen. Das Revisionsgericht kann die Entscheidung für die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens nur darauf überprüfen, ob das Oberverwaltungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. März 1999 - 4 B 112.98 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 35 S. 5 und Urteil vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 <296>). Der Verzicht auf die mündliche Verhandlung ist nur zu beanstanden, wenn er auf sachfremden Erwägungen oder auf grober Fehleinschätzung beruht (vgl. BVerwG, Urteile vom 30. Juni 2004 - 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <213> und vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 <296>).

11 Hieran gemessen zeigt das Beschwerdevorbringen nicht auf, dass das Vorgehen im Beschlusswege nach § 130a VwGO ermessensfehlerhaft gewesen ist. Dass die sich im Verfahren stellenden Rechtsfragen außergewöhnlich schwierig waren und die Erörterung in einer mündlichen Verhandlung erforderlich gewesen wäre, legt der Kläger mit den allgemeinen Hinweisen auf die Gesichtspunkte der Unterkunft, der Mietzuschüsse und der "Obdachlosigkeit" in Rumänien nicht hinreichend dar. Das Beschwerdevorbringen zeigt nicht auf, warum es für den Kläger erforderlich gewesen wäre, die von ihm angeführten Aspekte gerade in einer mündlichen Verhandlung vorzutragen. Dabei ist weiter zu berücksichtigen, dass sich selbst die Beschwerde nicht näher zu der von ihr aufgeworfenen Frage der individuellen Fähigkeiten und der beruflichen Qualifikation des Klägers verhält. Auch insoweit wird allenfalls eine weitere gerichtliche Ermittlung angeregt, aber keine Beweistatsache benannt.

12 Aus Art. 6 EMRK folgt entgegen der Auffassung der Beschwerde vorliegend keine Pflicht des Berufungsgerichts zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK bestimmt, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Ob diese Vorschrift, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch auf bestimmte verwaltungsgerichtliche Verfahren Anwendung finden kann (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <206 ff.>, Beschlüsse vom 25. September 2003 - 4 B 68.03 - NVwZ 2004, 108 <109 f.> und vom 23. Februar 2021 - 1 B 13.21 - juris Rn. 7) auf das vorliegende Verfahren direkt anwendbar ist, kann dahinstehen. Ebenso kann offenbleiben, ob die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK bei der konventionskonformen Anwendung des § 130a VwGO (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 <297>, Beschlüsse vom 10. Juli 2019 - 1 B 57.19 , 1 PKH 29.19 - juris Rn. 10 und vom 23. Februar 2021 - 1 B 13.21 - juris Rn. 7) unabhängig vom Anwendungsbereich der Norm zu berücksichtigen sind, weil der deutsche Gesetzgeber das Verfahrensprinzip der öffentlichen mündlichen Verhandlung aus Art. 6 Abs. 1 EMRK allgemein im Einzelfall gewahrt wissen wollte (vgl. BT-Drs. 13/3993 S. 12 zu § 84 VwGO; BVerwG, Urteile vom 14. März 2002 - 1 C 15.01 - BVerwGE 116, 123 <127 f.> und vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 <297>; anders BVerwG, Beschluss vom 30. November 2017 - 6 BN 1.17 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 212 Rn. 17).

13 Jedenfalls lässt sich ein Verstoß gegen die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht feststellen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt diese Vorschrift nicht notwendigerweise eine mündliche Verhandlung, wenn eine solche in der ersten Instanz durchgeführt wurde oder die Beteiligten - wie hier - darauf verzichtet haben. Ob eine mündliche Verhandlung in der Berufungsinstanz erforderlich ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere davon, ob der Fall tatsächliche oder rechtliche Fragen aufwirft, die nicht angemessen auf Grundlage der Verfahrensakten entschieden werden können (vgl. EGMR, Urteil vom 8. Februar 2005 - 55853/00, Miller/Sweden - Rn. 30 m. w. N.). Dass dies der Fall ist, zeigt die Beschwerde - wie bereits dargestellt - nicht auf.

14 b) Für die geltend gemachte Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO muss dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen konkreten Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, durch einen Beweisantrag hingewirkt worden ist und die Ablehnung der Beweiserhebung im Prozessrecht keine Stütze findet, oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 15. Februar 2013 - 8 B 58.12 - ZOV 2013, 40 und vom 12. Juli 2018 - 7 B 15.17 - Buchholz 451.224 § 36 KrWG Nr. 1 Rn. 23).

15 Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung ersichtlich nicht gerecht. Sie hat zum einen schon keine konkreten Ermittlungsmaßnahmen aufgezeigt, die das Berufungsgericht pflichtwidrig unterlassen haben soll, und vor allem auch nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise vorgetragen, welche tatsächlichen Feststellungen bei deren Vornahme voraussichtlich getroffen worden wären. Zum anderen muss dargelegt werden, dass bereits im Berufungsverfahren auf die Sachverhaltsaufklärung, deren Unterlassen nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist, oder dass sich dem Berufungsgericht die Notwendigkeit der bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätte aufdrängen müssen. Auch daran fehlt es, weil der Bevollmächtigte des Klägers in der vom Berufungsgericht ordnungsgemäß gesetzten Anhörungsfrist von drei Wochen zur beabsichtigten Beschlussfassung nach § 130a VwGO nicht reagiert hat, insbesondere es unterlassen hat, durch konkrete Beweisanträge auf eine weitere entscheidungserhebliche Sachverhaltsaufklärung hinzuwirken. Die Aufklärungsrüge ist kein Mittel, um Versäumnisse eines Beteiligten in der Tatsacheninstanz zu kompensieren, vor allem wenn er es - wie hier - unterlassen hat, einen Beweisantrag zu stellen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1969 - 6 C 52.65 - BVerwGE 31, 212 <217 f.> und Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14 und vom 10. Dezember 2020 - 2 B 6.20 - NVwZ-RR 2021, 469 Rn. 8).

16 c) Auch die von der Beschwerde darüber hinaus behauptete Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes nach § 108 Abs. 1 VwGO durch das Berufungsgericht wird nicht in einer nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO gebotenen Weise dargelegt. Die Beschwerde erschöpft sich insoweit in der Feststellung, dass die Entscheidung eine nicht gemäß § 108 Abs. 1 VwGO nachvollziehbare und nachprüfbar erarbeitete Tatsachengrundlage aufweise beziehungsweise auf einer nicht ordnungsgemäßen Überzeugungsbildung gemäß § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 1 VwGO beruhe. Damit wird allenfalls ein (vermeintlicher) Fehler in der Beweiswürdigung angesprochen. Solche Fehler sind revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen und können einen Verfahrensmangel i. S. v. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO deshalb grundsätzlich nicht begründen (BVerwG, Beschluss vom 4. Mai 2020 - 1 B 17.20 - juris Rn. 4).

17 2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.